Alleine gegen ganz Berlin

Mit dem Werk „AchtNacht“ trifft Fitzek einmal mehr den Zeitgeist: Der Einfluss sozialer Medien, die Psychologie der Massen und die Sensationsgier des Einzelnen sind Katalysatoren für das perverse Spiel einzelner Psychopathen. Eine Dystopie, die nicht so abwegig erscheint.

Von Florian Fabozzi

Inmitten von Berlin führt der erfolglose, hochverschuldete Musiker Benjamin Rühmann ein trostloses Einsiedlerleben. Von seiner Frau geschieden, gilt seine Liebe allein der körperlich behinderten Tochter Jule. Ben versinkt im Kummer, als Jule einen Suizidversuch unternimmt und fortan nur noch künstlich am Leben gehalten wird. Mit seiner Vermutung, Jule sei das Opfer eines versuchten Mordes gewesen, steht Ben alleine da.

Derweil macht ein neues Internetphänomen die Runde: AchtNacht. „Stell dir vor, du dürftest einen Menschen straffrei töten, wen würdest du auswählen?“ Mit dieser Frage begrüßt die Website seine Besucher. „AchtNacht“ ist ein Spiel mit denkbar einfachen Regeln. Jeder ist dazu angehalten, eine Person auf die Todesliste zu setzen. Alle Nominierten landen in einem Lostopf, aus dem anschließend zwei Namen gezogen werden. Die „Gewinner“ der Auslosung sind am 8. August von 8:00 abends bis 8:00 morgens vogelfrei. Der Clou: Dem „Jäger“, dem es gelingt, einen der Nominierten zur Strecke zu bringen, winkt eine Belohnung von 10 Millionen Euro.

Bens Sorge um seine Tochter weicht einer grenzenlosen Verwirrung, als er sein Gesicht und Namen auf einer Videoleinwand wiedererkennt – als Kandidat der AchtNacht. Wer sollte ihm den Tod wünschen? Als er auf seinem Handy die ersten Nachrichten eines Erpressers empfängt, erkennt er den Ernst der Lage. Ben wird zur Figur auf dem Spielbrett eines anonymen Mannes, der Bens Schwächen kennt und sie sich zu Nutze macht. Die Lage gerät schnell außer Kontrolle und aus einem Feind werden Tausende. Eine Hetzjagd beginnt. Zufällig trifft Ben schließlich auf seine einzige Verbündete: Arezu, die zweite Kandidatin in dem Todesspiel.

Inspirationsquellen und Unterschiede

Erfolgsautor Sebastian Fitzek (© FinePic Photography)

Das Konzept von „mörderischen Spielen“ ist gewiss keine Schöpfung Fitzeks. Im japanischen Kult-Thriller Battle Royale von 1997 werden Schulklassen auf eine evakuierte Insel gebracht, auf der sie sich gegenseitig umbringen sollen, bis nur ein Überlebender übrig bleibt – das alles als staatliche Maßnahme gegen die steigende Jugendkriminalität. Auch die Hungerspiele aus der bekannten Tribute-von-Panem-Reihe dienen primär zur Einschüchterung der Distriktbewohner.

Die unmittelbarste Inspirationsquelle fand Fitzek in der amerikanischen Filmreihe The Purge, die er im Vorwort sogar namentlich erwähnt. In der von The Purge dargestellten Zukunftsvision gibt es eine staatlich festgelegte Nacht im Jahr, in der alle Gesetze aufgehoben sind.

Was AchtNacht jedoch von den vorangegangen Beispielen unterscheidet: Die Regierung ist nicht involviert. Die AchtNacht, so stellt sich bald heraus, ist von der Idee her nichts weiter als ein massenpsychologisches Experiment, das die Verbreitung von Lügen und Gerüchten im Internet zum Untersuchungsgegenstand hat. Ein Experiment, das ausartet und die Kehrseite der Menschen zum Vorschein bringt.

Die Macht des Internets

Es sind vor allem die sozialen Medien, die ein sozialpsychologisches Experiment in eine blutige Hetzjagd verwandeln. Auf der AchtNacht-Website erscheinen im Minutentakt persönliche Informationen über die Gejagten. Als Fakten getarnte Gerüchte und Verleumdungen. Beweise sind nicht wichtig, denn die Leute glauben, was sie glauben wollen. Es taucht ein Video auf, in der Ben eine Frau vor einem Schläger beschützt – eigentlich. Denn die Bearbeitung lässt Ben als einen Täter erscheinen. Der Hass wird weiter geschürt.

Die Tageszeitungen und Fernsehsender verfolgen gute Absichten, tragen aber eher zur Eskalation bei. Die ausführliche Berichterstattung ruft noch mehr potentielle Täter auf den Plan.

Im Medienzeitalter, auch das zeigt das Werk, ist es schwer, unentdeckt zu bleiben. In dystopischen Visionen, in denen ein Überwachungsstaat herrscht, sind die Bewohner gläserne Menschen. Auch auf Ben ist das zutreffend. Seine Jäger wissen, was er tut, und sie wissen, wo er es tut. Es genügen belanglose Apps auf Bens Handy, die GPS-Signale aussenden, durch welche der Mob in der Lage ist, ihn zu orten. Ben ist sich dem erst nicht bewusst – und steht damit stellvertretend für viele Menschen, die Apps nutzen, ohne sich über Nebeneffekte im Klaren zu sein.

Die Dynamik der Massen

Obwohl das makabere Spiel auf nur zwei Gewinner ausgelegt ist, beginnen fremde Menschen miteinander zu kooperieren und gehen gemeinsam auf die „Jagd“. Damit ein Individuum sich als Teil einer Gemeinschaft fühlt, braucht es zur Identitätsstiftung nur einen kleinen gemeinsamen Nenner. Nach wenigen Stunden verbreitet sich das Gerücht, Ben sei ein pädophiler Triebtäter. Von seinen Erpressern unter Druck gesetzt, nimmt Ben ein Video auf, in dem er genau das bestätigt. Es ist von da an also der Hass, der die Leute vereint und darüber hinaus fühlen sie sich in dem Glauben bestärkt, im moralischen Recht zu sein.

Interessanterweise ist die Identifikation als Gruppe nicht nur auf den Zweck beschränkt, sondern bald schon symbolbeladen und auf Repräsentation bedacht. So treten die Jäger mit einheitlicher Gesichtsbedeckung auf – simple Mülltüten mit Löchern für Augen und Mund –und schmieren Achten auf die Wände. Die Darstellung der Menschenmasse bewegt sich irgendwo zwischen dem selbstjudizierenden Mob in Fritz Langs‘ Krimi M – Eine Stadt sucht einen Mörder und der Schulklasse in Morton Rhues Die Welle.

Um AchtNacht angemessen zu promoten, scheute Fitzek keinen Aufwand. Diese kurze filmreife Trailer zeigt, wie der im Buch beschriebene mordlustige Menschenmob aussehen könnte.

Sensationsgier und menschliche Abgründe

Die Macht der Massenpsychologie entschuldigt nicht die menschlichen Abgründe, die in dem Roman offen zu Tage treten. Hinter den Erpressungen Bens stecken die kleinkriminellen Nebencharaktere Nikolai und Dash. Tod, Gewalt und Demütigungen ist ihr Geschäft. Sie produzieren Videoaufnahmen von Gewaltexzessen und Verfolgungsjagden, veröffentlichen sie in den dunklen Ecken des Internets und generieren damit hohe Geldsummen. Für Videos dieser Art gibt es einen Markt. Leute, die Massenschlägereien anregend und ästhetisch genug finden, um für ihren Anblick zu zahlen.

In der medial aufgebauschten AchtNacht wittern Nikolai und Dash ein großes Geschäft, da ihre Videos nun nicht nur für Sadisten, sondern auch für Medienanstalten von großem Interesse sind. In der Gesellschaft, die Fitzek porträtiert, ist die Gier nach Sensationen so tief verankert, dass es einem beim Lesen die Nackenhaare aufstellt.

Ben und die unsichtbare Bedrohung

Fitzek ließ die AchtNacht-Website nachstellen – haargenau wie im Buch beschrieben. Klickt auf das Bild, um auf die Website zu gelangen, beantwortet die Fragen und euch erwartet eine nette Überraschung.

Ben und seine Leidensgenossin Arezu sind in der Achtnacht permanent auf der Flucht. Die Erpresser wissen um die Schwäche Bens: Seine Tochter Jule. Mit der Androhung, ihr etwas anzutun, machen sie Ben gefügig. Sie verfolgen das Ziel Ben zu diffamieren, zum Feindbild und Zielscheibe der Massen zu machen. Ben kann sich also nicht verstecken, wie jeder es in seiner Lage tun würde, sondern muss sich der Gefahr stellen.

Der Spielleiter bleibt über weite Strecken der Handlung ein nicht greifbares Mysterium. Arezu kennt den Leiter, der die Seite programmiert hat, unter den Namen „Oz“. Jedoch gibt sie an, ihn niemals gesehen zu haben, da er sich hinter dem Schutz der Anonymität verstecke.

Für Ben sind sowohl die Erpresser als auch Oz unsichtbare Bedrohungen, gegen die er nichts ausrichten kann. Ein kafkaeskes Gefühl der Ohnmacht.

Fitzek hält den Charakter Oz bis kurz vor dem Ende geheim und lässt die Leser im Dunkeln tappen. Wie immer bei Fitzek lohnt es sich auf jedes Detail zu achten, denn frühzeitig finden sich Hinweise auf die spätere Auflösung – natürlich sehr geschickt versteckt.

Verblüffende Wendungen – Frage nach dem Widerstand

Es gibt drei Kernfragen, die sich im Laufe des Buches ergeben: Wer ist der sogenannte Oz, der das Spiel entwickelt hat? Wer ist für die Nominierungen von Ben und Arezu verantwortlich? Und was steckt wirklich hinter dem vermeintlichen Suizidversuch Jule zu Beginn des Buches?

Bei der Auflösung einiger Fragen bedient Fitzek sich eines für Psychothriller typischen Motives, das durch seine routinierte Inszenierung trotzdem schockierend wirkt. Vermeintliches Vorwissen wird auf den Kopf gestellt – hier beweist Fitzek sein ganzes Können und führt den Leser wieder an der Nase herum. Zu kritisieren ist, dass ein Teil der Auflösung so simpel erscheint, dass man sich fragt, warum die Frage derart lange offen im Raum stand.

UUnsere Generation wird eines Tages nicht nur die ätzenden Worte und bösen Taten der schlechten Menschen zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der guten.  – Martin Luther King

Was der Leser in der Handlung vergeblich sucht, ist eine Widerstandsfront oder einzelne Bündnisse, die sich gegen die Hetzjagd stellen und den Gejagten den Rücken frei halten. Die meisten Kapitel sind aus der Perspektive Bens geschrieben und spiegeln seine Gedanken wider, daher wundert es, dass nicht wenigstens die potentielle Existenz eines solchen Widerstands je zur Sprache kommt. Dem Faktor Angst zum Trotz, ist es überraschend, dass nicht zumindest eine kleine Gruppe den Versuch startet, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Letztlich fügt sich das jedoch gut ins zutiefst negative Gesellschaftsbild Fitzeks ein. In einem vorherigen Werk zitierte er Martin Luther King: Unsere Generation wird eines Tages nicht nur die ätzenden Worte und bösen Taten der schlechten Menschen zu bereuen haben, sondern auch das furchtbare Schweigen der guten.“ Dieses Zitat ist auch hier mehr als zutreffend.

AchtNacht – realistisch oder nur Dystopie?

Bleibt also die Frage danach, wie realistisch ein derartiges Szenario ist. Fitzek verlegt das Geschehen bewusst nicht in die Zukunft, sondern ins Berlin der Gegenwart. Er ist davon überzeugt, seine Vision könnte heute schon eintreten.

Das gesellschaftliche Bild das Fitzek in dem Thriller zeichnet, wirkt sehr düster und negativ. Um sich zu solchen Taten hinreißen zu lassen, wären bei den meisten Bürgern die Skrupel wohl zu groß, genau so wie Achtung vor den Grundgesetzen, die durch einen Internethype nicht an Gültigkeit verlieren. In Zeiten, in der die terroristische Bedrohung zunehmend in den Mittelpunkt rückt, wäre bei einer AchtNacht wohl auch mit einer erhöhten polizeilichen Präsenz zu rechnen.

Nichtsdestotrotz ist Manipulierbarkeit gepaart mit Verrohung vor dem Hintergrund der heutigen Medienvielfalt eine gefährliche und explosive Mischung. Man kann nur an jeden appellieren, die Fähigkeit zur selbstständigen Meinungsbildung zu bewahren, Dinge kritisch zu hinterfragen, dabei aber zu erkennen, dass die einfache Antwort nicht immer die richtige Antwort ist. Gleichzeitig muss man sich im Klaren sein, dass eine funktionierende Gesellschaft letztlich auf dem Verständnis von Empathie fußt.

AchtNacht. Sebastian Fitzek. Psychothriller. Knaur Verlag. München 2017.

Titelbild: Knaur Verlag

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