Unvergessene Weihnachten: Als der heilige Antonius zu Hilfe kam

Von Hans-Joachim Mispagel

Wir schreiben das Jahr 1980, 24. Dezember, Heiligabend. Es liegt jede Menge Schnee im Ort und ebensoviel weihnachtliche Hochspannung in der Luft. Unsere Tochter Nathalie, acht Jahre alt, ist schon den ganzen Tag mächtig aufgeregt. Heute Abend wird der von Papa über Stunden geschmückte Weihnachtsbaum erstrahlen, wir werden singen, gemütlich beieinander sitzen, plaudern und uns natürlich an den Geschenken erfreuen. Zum Fest sind die Großeltern aus dem Rheinhessischen angereist, um für einige Tage zu bleiben. Mit ihrer Oma Anna versteht sich Nathalie besonders gut und wird noch als Erwachsene an sie und jene Kinderjahre gerne zurückdenken. Oma kann Geschichten erzählen, Gedichte aufsagen, frühere Zeiten lebendig werden lassen. Nur mit dem Singen ist es bei ihr gerade am Heiligabend nicht zum Besten bestellt. Ob einer brüchigen Stimme oder aus innerer Rührung sei dahingestellt, jedenfalls gehen manche oberen Töne gerade bei „Stille Nacht, heilige Nacht“ in Hüsteln über. Verlegen kommentiert sie: „No, ich hab’ ja heit widder so e Geketzer.“

Aber zurück zum besagten Nachmittag. Nathalie ist aus Vorfreude auf den Abend zusehends unruhiger geworden, weswegen meine Frau vorschlägt, noch einen kleinen Spaziergang an unserem Horlachgraben zu unternehmen. Diese Ablenkung werde sicherlich Wirkung zeigen. Mit Opa Fritz und Cockerspaniel Amber machen wir uns zu einem kleinen Rundgang im Schnee auf. Dick eingemummelt biegen wir in den Weg am Gewässer ein und stapfen an den Wiesenkoppeln entlang. Nicht immer bleiben wir auf dem Pfad, sondern laufen kreuz und quer, werfen Schneebälle und genießen die Winteratmosphäre. Zu jener Stunde sind wir beinahe die Einzigen, die noch unterwegs sind.

Unterdessen ist es dunkel geworden, und wir machen uns auf den Heimweg. Wer es zuerst bemerkt hat, weiß ich heute nicht mehr; aber plötzlich wird unser Haustürschlüssel vermißt. Wir müssen ihn verloren haben!

 Trotz der Kälte steigt es siedend heiß in mir hoch. Sämtliche Wege suchen wir ab, gehen aufmerksam unseren Spuren nach, doch der Schlüsselbund bleibt verschwunden. Nach kurzer Beratung schicken wir Nathalie nach Hause, um eine Taschenlampe zu holen. Als sie zurückgekehrt ist

– ein besorgter Nachbar hat sich über ihren späten Gang durch die Straßen gewundert –, setzen wir die Suchaktion fort. Erneut wird der gesamte Spazierbereich abgeschritten. Erfolglos.

Mit dem Licht in der Hand verlasse ich schließlich den Weg, um durch tiefen Schnee ein Stück an der eingezäunten Koppel entlang zu gehen.

Verzweiflung überkommt mich. Just in diesem Moment richte ich ein Stoßgebet an denjenigen, der in solchen Situationen seit jeher von unserer Familie angerufen wird:

„Heiliger Antonius, laß doch einfach den Schlüssel vor mir liegen!“

Und was geschieht? Kaum ist die flehentliche Bitte ausgesprochen, richtet sich der Strahl meiner Taschenlampe direkt auf eine Vertiefung im Schnee mit einem blinkenden Etwas darin. Ich bücke mich, greife in die kleine, eisige Mulde und halte den Schlüssel in der Hand!

„Ein Wunder in der Heiligen Nacht“, schießt es mir durch den Kopf, „Danke, lieber Antonius!“

Diese Weihnachtsgeschichte wäre unvollständig ohne folgenden Nachtrag. Seinerzeit habe ich dem Heiligen Antonius versprochen: Wo auch immer ich in Zukunft zuerst sein Abbild erblicke, werde ich ihm aus Dankbarkeit eine große Kerze stiften. Im Jahr darauf, 1981, kommt die Gelegenheit während einer Geschäftsreise nach Würzburg. Meine Mutter begleitet mich. Gemeinsam besuchen wir am 2. April die Festung Marienberg sowie das „Käppele“, die Marienwallfahrtskirche von Baumeister Balthasar Neumann. Beim Rundgang durch den Rokoko-Bau fällt mein Blick plötzlich auf eine Plastik des Heiligen Antonius. Die Geschehnisse vom vergangenen Heiligabend werden wieder lebendig, mein Versprechen gleichfalls. Hier also, 130 Kilometer vom Heimatort entfernt, soll mein Gelöbnis eingelöst werden. Ich erstehe eine Kerze, tausche sie gegen die unterhalb der Figur stehende, schon etwas heruntergebrannte aus und danke dem mir vertrauten Heiligen noch einmal für die Hilfe. Argwöhnisch beobachtet ein im Kirchenrund diensttuender Pater, wie ich mich anstrenge und unter einigen Verrenkungen die Kerze auf dem erhöht angebrachten Sockel platziere.

Bis heute hilft der Heilige Antonius*) mir und meiner Familie, wenn irgendetwas nicht aufzufinden ist. Als symbolischer Dank werden dafür Kerzen aufgestellt. Das Geschehen am Heiligabend vor über 35 Jahren war gleichwohl etwas Besonderes. Für mich wird der Moment, als mein Hilferuf sofort erhört wurde, immer ein kleines Weihnachtswunder bleiben.

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Unvergessene Weihnachten. Bild: Zeitgut Verlag/Privatbesitz des Verfassers

*) Die Legendenbildung um den Heiligen Antonius begann bereits zu seinen Lebzeiten (ca. 1195 in Lissabon – 1231 bei Padua). Schon frühe Quellen berichten von zahlreichen Wundern. Verbreitet ist im deutschsprachigen Raum das Gebet im Hinblick auf Antonius’ Patronat als Helfer zum Wiederfinden verlorener Gegenstände: „Heiliger Antonius, du kreuzbraver Mann, führ mich dahin, wo …. (z. B. mein Schlüssel) sein kann!“

Unvergessene Weihnachten. Band 12

29 besinnliche und heitere Zeitzeugen-Erinnerungen aus den Jahren 1925 bis 2009. 192 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister. Zeitgut Verlag, Berlin.

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