Wo träumen noch erlaubt ist

Musikgenres im Schatten des Mainstreams - Teil 2: Shoegaze & Dream Pop

Ende der 1980er bahnten sich zwei seltsame Genrebezeichnungen ihren Weg ins musikalische Wörterbuch: Shoegaze und Dream Pop. Musik von Künstlern, die auf ihre Schuhe starren? Oder doch Pop, den man nur während des Träumens hört? Hinter diesen Begriffen verbirgt sich eine lange Geschichte mit Höhen und Tiefen.

Von Florian Fabozzi

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Schottland in den frühen Achtzigern: In Grangemouth, einer kleinen, unscheinbaren Hafenstadt, verbringt die erst 17-jährige Liz Fraser ihre Abende regelmäßig in dem angesagtesten Rock-Club.  Dort trifft sie eines Tages auf den ein Jahr älteren Robin Guthrie. Vereint durch die Liebe zur Punkmusik, verlieben sie sich ineinander und fassen den Plan, eine Band zu gründen.  Das Vorhaben offenbart jedoch einige Schwächen: Fraser kriegt auf der Bühne kaum einen Ton raus, Guthrie hält sich für einen Gitarristen, scheitert aber schon an den einfachsten Akkorden. Die Cocteau Twins, so heißt ihre Band, machen die Not zur Tugend, legen ihre Träume von einer Punk-Band ad acta und schlagen einen anderen Weg ein. Sie investieren in Effektgeräte und Synthesizer. Mit Hall-Effekten und Verzerrungen modifizieren sie die Gitarrensounds bis zur Unkenntlichkeit und erschaffen einen noch weitgehend unbekannten, sphärischen Sound. Liz hat ihr Heilmittel gegen die Schüchternheit in einer Fantasiesprache gefunden. Bedeutungslose Texte zu singen, verleiht ihr auf der Bühne das Gefühl von Freiheit. Die Benutzung einer imaginären Sprache wird zum Markenzeichen der Band. Der atmosphärische Sound dagegen wird noch viel mehr: Er bereitet den Weg für ein ganz neues Genre, dem sogenannten Shoegaze.

Was Shoegaze ausmacht

Ein wichtiges Merkmal des Shoegaze ist die sogenannte Wall of Sound, eine Technik, bei dem der Sound von bestimmten Instrumenten mehrfach eingespielt und übereinandergelegt, anschließend in einer Echokammer neu aufgenommen wird. Shoegaze-Künstler verwenden hierbei zumeist mehrstimmige Gitarrensounds. Die Gitarren- und Schlagzeugklänge werden mittels Audioeffekten soweit  verzerrt, dass man sie kaum mehr identifizieren kann. Das alles ergibt einen verschwommenen und verwaschenen  Sound, der typischerweise begleitet wird von hohen, ätherischen und mit Hall unterlegten weiblichen Stimmen.

Kennzeichnend für Shoegaze ist der Schwerpunkt auf Atmosphäre und Klangstrukturen, die genauso wichtig sind wie die Melodie selbst.

Shoegaze vs Dream Pop

Ein enger Verwandter des Shoegaze ist die Strömung des Dream Pops. Ursprünglich wurden die Begriffe synonym verwendet, Dream Pop war dabei der Begriff, der sich in den USA durchsetzte und die dortige Shoegaze-Szene bezeichnete.

Im Laufe der 1990er traten aber Unterschiede zwischen den beiden Genrearten zum Vorschein, die es verbieten sie gleichzusetzen. Die „Wall of Sound“, auf die das ganze Shoegaze aufbaut, ist im Dream Pop weniger stark ausgeprägt. Vor allem verzerrte Gitarrenriffs und andere Rockelemente spielen im Dream Pop eine untergeordnete Rolle. Shoegaze ist stilistisch betrachtet etwas aggressiver und näher an der Rockmusik, wohingegen Dream Pop sich – wie der Name es nahelegt – an Muster der Popmusik orientiert und die Lieder daher häufig eingängiger sind. Tatsächlich wird Dream Pop oft als „Anti-Rock“ angesehen.

Das 1984 erschienene “Treasure” der Cocteau Twins gilt als eines der ersten und gleichzeitig besten Dream Pop-Alben (© 4AD)

Die leichte, luftige Atmosphäre beider Genres ist jedoch identisch, ebenso der hohe und weiche Gesang der Sängerinnen und Sänger, der sanft die Gehörgänge der Zuhörer umschmeichelt. Auch der Charakter der Band, ihre Botschaft und Repräsentationen gleichen sich weitestgehend.

So sind die Songtexte häufig introspektiv, auf innere, seelische Empfindungen des Menschen gerichtet. Auch widmen sich die Texte häufig existentiellen Fragen. Nicht zuletzt deshalb haben Songs des Genres einen Hang zur Melancholie, ohne dabei ihre Leichtigkeit einzubüßen.

Eine andere Tendenz in den Songtexten und der Symbolik ist die Abkehr von der Realität hin zu halluzinogenen, mystischen und surrealen Erfahrungen.

Ein bisschen Namenskunde

Wer mit der englischen Sprache vertraut ist, wird sich vermutlich längst fragen, was es mit dem Genrenamen Shoegaze auf sich hat. Der Begriff ist eine Kreation des britischen Musikmagazins New Musical Express, die dem neuartigen Genre nicht sehr positiv gesonnen war. Die Bezeichnung für jene Bands, die während der Auftritte permanent auf den Boden (oder auf die Schuhe) starrten, statt mit den Fans zu interagieren, ist spöttisch gemeint. Die Verweigerung des Augenkontakts wurde den Shoegaze-Bands stets als Zeichen der Schüchternheit ausgelegt, was teilweise stimmt, wie im Beispiel der Cocteau Twins. Doch der Fokus auf den Bühnenboden hat in erster Linie pragmatische Gründe. Viele Effektgeräte, die den Shoegazetypischen Klang erzeugen, sind auf den Boden angebracht und werden mit Pedaldruck bedient.  Sie erfordern die volle Aufmerksamkeit der Künstler.

Shoegaze hat sich recht schnell als geläufiger Oberbegriff etabliert und die ursprünglich negative Konnotation stört die Anhänger der Szene nicht. Der tatsächliche Wortsinn und der Hintergrund des Begriffes werden nicht mehr erkannt oder einfach ignoriert.

„Dream Pop“ hat seinen Namen dagegen dem Gefühl zu verdanken, den die Hörer während der Songs verspüren sollen. Die Hörer können sich demnach so weit in die Songs vertiefen, bis sie sich in einen traumartigen Zustand wähnen.

Wurzeln gehen lang zurück

Der vermeintlich traumartige Zustand und die vorher erwähnten Fokussierung auf halluzinogen Erfahrungen führen unmittelbar zu den Wurzeln des Dream Pops und des Shoegazes. Die liegen nämlich unter anderem im Psychedelic Rock, der seine Blütezeiten in Großbritannien der 1960er und frühen 1970er hatte. Im Psychedelic Rock wurden bereits mit zahlreichen neuartigen Klangmethoden getüftelt. Effekte zur Verzerrung von E-Gitarren-Sounds, das Kreieren von Loops, rückwärts gespielten Melodiepassagen und ähnlichem. Die Stilrichtung war eng verknüpft mit der 69er-Bewegung. Wichtige Themen waren dabei das Motiv der Bewusstseinserweiterung und im speziellen die Droge LSD. Der surreale Klang der Songs sollte suggerieren, man befände sich auf einem Drogentrip. Die britische Kultband The Velvet Underground war die populärste dieser Art und hauptsächlich einflussgebend auf die spätere Shoegaze-Entwicklung.

Weitere musikalische Einflüsse finden sich im Post-Punk (Sonic Youth), Gothic-Rock (The Cure) und der Ambientmusik.

Höhen und Tiefen

Neben den Cocteau Twins formierten sich am Ende der 1980er zahlreiche Bands, die das Genre in die weite Welt hinaus trugen. Die vierköpfige irische Band My Bloody Valentine waren genau so anerkannte Pioniere wie Slowdive, die sich später mehr der Electronica-Musik zuwandten. Die Shoegaze- und Dream Pop-Szene erreichte zu Beginn der Neunzigerjahre ihren vorläufigen Höhepunkt, ehe sie durch den Aufstieg der Grunge-Musik und des Britpops ihre Stellung einbüßte und kaum mehr Beachtung fand.

Die Stilrichtung drohte jedoch nie auszusterben, da immer wieder experimentelle Rockbands die musikalischen Ideen des Shoegaze aufgriffen und der breiteren Öffentlichkeit zugänglich machten. Das Album The Soft Bulletin der Progressive-Rock-Band The Flaming Lips sei hier als Beispiel aufgeführt. Auch die Postrocker Sigur Rós werden seit jeher immer wieder als Dream Pop-Band klassifiziert, wenn gleich sie viel öfter mit rockigen und orchestralen Elementen arbeiten, als es für Dream Pop-Bands üblich ist. Der  Song Myrkur aus ihrem Debütalbum Von ist allerdings ein Musterbeispiel für einen Shoegaze-Song.

Alex Scully und Victoria Legrand bilden das Duo Beach House (© Carpark Records)

Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde es um Dream Pop/Shoegaze noch ruhiger. Eine der wegen nennenswerten Bands dieser Zeit war die japanisch-amerikanische Band Asobi Seksu, deren Merkmal die fernöstlichen Klänge waren, welche in ihre Musik einflossen.

Wie aus dem Nichts gewann der Dream Pop Ende des letzten Jahrzehnts schließlich wieder an Popularität und es wuchs eine lebendige und bemerkenswert erfolgreiche Szene heran. So schafft es das Duo Beach House mit ihren Alben regelmäßig in die Top 20 der britischen und amerikanischen Albumcharts. Auch die französischen Band M83 hat großen kommerziellen Erfolg: Ihre Songs werden häufig zur musikalischen Untermalung von Reportagen, Trailern und Werbespots genutzt. Dies zeigt, dass die Beliebtheit und das Verlangen nach ruhigerer, verträumter Musik auch heute ungebrochen sind.

Die Rolle deutscher Künstler

Deutsche Bands spielen sowohl in der Dream Pop- als auch in der Shoegaze-Szene eher eine untergeordnete Rolle. Die inzwischen aufgelöste Dresdner Band Malory war zumindest Kennern ein Begriff. Mit der Unterstützung des amerikanischen Plattenlabels Claire Records veröffentlichten sie einige semi-erfolgreiche Alben, kamen über die Rolle des Geheimtipps nie hinaus. Ebenfalls aus Dresden stammte die wesentlich bekanntere Band Polarkreis 18. Bevor sie mit Synth-Pop-Hits wie Allein, allein die deutschen Charts stürmten, verzückten sie ihre Fans mit leichten, sphärischen Pop-Songs, die an die Tradition des Dream Pops anknüpften.

Noch immer aktiv ist Fahrenhaidt, das Projekt zweier Berliner Musikproduzenten. Sie bezeichnen ihre Musik selber als Nature Pop. Ein mediativer, esoterischer Stil, mit Klangelementen aus der Natur und akkustischen Effekten – und damit nur eine weitere Variante des Dream Pops.

Wärmstens zu empfehlen

Ein Geheimtipp auf dem Gebiet des Dream Pops ist Low Roar, das Solo-Projekt des kalifornischen Sängers Ryan Karazija, welches tragischerweise ein wenig unter dem Radar fliegt. Die sanften, berührenden Klänge gepaart mit der hohen, manchmal falsettartigen Stimme des Sängers gipfeln in einer fast schmerzhaft süßen Melancholie, die schwer zu übertreffen ist. Low Roar hat kürzlich sein drittes Album veröffentlicht (Once in a long, long while…), in dem er unter Anderem klassische Themen wie Trennungsschmerz und identitätskrisen verarbeitet. Doch klingen die Songs nie verkitscht, sondern immer sehr authentisch und aufrichtig.

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