Coronas literarische Vorboten – Geschichten über Viren und Pandemien

Teil 3: "Das Dekameron" von Giovanni Boccaccio

Schon zu Zeiten, als Corona noch das spanische Wort für “Krone” oder ein mexikanisches Maisbier war, waren Epidemien und Pandemien ein beliebtes Motiv in der Literatur, sei es, um vor einer bestehenden Gefahr zu warnen oder als Analogie zu anderen Sachverhalten. Im Anbetracht der aktuellen Lage haben wir eine neue Rubrik ins Leben gerufen: Coronas literarische Vorboten. Hier stellen wir Erzählungen und Romane vor, die von Viren und Pandemien handeln. Dabei schauen wir sowohl auf alte als auf jüngere Werke der Literaturgeschichte. Können wir aus manchen dieser Erzählungen vielleicht auch Schlüsse für die Gegenwart ziehen?

Von Arleen Schäfer

Um die Auswirkungen der globalen Corona-Pandemie zu reduzieren, wurden in vielen Ländern verschiedene Maßnahmen getroffen wie „social distancing“ und die Maskenpflicht. Auch in Deutschland wurden soziale Maßnahmen eingeführt, die einen enormen Eingriff in das sonstige alltägliche Leben der Menschen haben, doch rechtfertigt eine Pandemie solche enormen Eingriffe? Zumindest die Frage, ob man momentan doch lieber auf einen gemeinsamen Grillabend bei wunderbarstem Wetter verzichten sollte, könnte mit einem kleinen literarischen Ausflug beantwortet werden, der zudem zeigt, dass wir es mit einer etwaigen Quarantäne gar nicht mal so schlecht haben.

Pandemien und Epidemien waren schon immer eine Bedrohung für Menschen und Tiere und zeigen ihre Wirkungen sowohl in der realen als auch fiktiven Welt. Die Literatur ist eines der ältesten kulturellen Medien, um Wissen zu überliefern und mit wahren wie fiktiven Erzählungen vor Unheil zu warnen und die Menschen zu belehren, wozu auch die Warnung vor Krankheiten zählt. Die in Europa wohl historisch bekannteste und katastrophalste Pandemie war die Pest, die mit ihren Seuchenzügen von der Bronzezeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unzählige Opfer forderte. Ihre schrecklichen Auswirkungen sind noch heute überliefert und nicht nur durch die Redewendung „Du hast die Wahl zwischen Pest und Cholera“ fest in dem kollektiven Gedächtnis verankert.

Illustration Decameron vom britischen Künstler John William Waterhouse aus dem Jahr 1916 (Public Domain)

Einen guten Einblick in eben diese Zeit ermöglicht “Das Dekameron” von Giovanni Boccacio. Geschrieben wurde es in der Mitte des 14. Jahrhunderts, was sich schon an dem ungewohnten und altertümlichen Sprachgebrauch erkennbar macht. Grob umrissen besteht die Handlung des Buches darin, dass sich eine zehnköpfige Gesellschaft aus sieben jungen Frauen und drei jungen Männern auf einen Landsitz zurückzieht, um den Auswirkungen der Pest zu entgehen. Um sich von dem allgegenwärtigen Anblick von Tod und Elend abzulenken und physisch wie psychisch davor zu entfliehen, erzählt jeder täglich eine Geschichte, die thematisch von einem zuvor ernannten „König“ oder einer „Königin“ vorgegeben wird. Diese Leitung geht ebenso täglich an eine andere Person über, sodass die Gesellschaft insgesamt für zehn Tage auf dem Landsitz verweilt, bevor alle nach Florenz zurückkehren.

Geschichten über das richtige Verhalten

Dieser Umriss beschreibt jedoch lediglich die Rahmenhandlung und damit nur einen geringen Anteil des gesamten Buches, da es sich im Allgemeinen eher um eine Anthologie aus Novellen beziehungsweise aus Kurzgeschichten handelt, welche den Großteil der Erzählung ausmachen. Sie handeln von verschiedenen moralischen oder sozialen Problemen der Zeit und stellen vor allem die strenge Gläubigkeit der Menschen und die Macht des Klerus in Frage. Diese Erzählungen thematisieren die generellen Verhaltensnormen der damaligen Zeit und diese Tatsache ist nicht zu vernachlässigen, da gerade die sozialen Normen durch das Auftreten der Pest in einen Ausnahmezustand versetzt wurden und fast gänzlich an Gültigkeit verloren hatten. Diesen Zustand können wir momentan wohl alle einigermaßen nachvollziehen, da viele die Kontaktverbote in eine private „Quarantäne“ ausweiten, um sich und ihre Liebsten zu schützen.

Berge von Leichten machten es unmöglich, Begräbnisse abzuhalten

Heute bieten sich uns vielerlei Möglichkeiten, um sich in den heimischen vier Wänden die Langeweile zu vertreiben, damals jedoch waren die kurzen Erzählungen der zehn Adligen wohl eine der kreativeren Lösungen. Auch verschaffen sich die Figuren mit dem künstlichen Aufbau einer Hierarchie durch König oder Königin auf dem Landsitz eine gewohnte Situation und Ordnung. Der Alltag aus Erzählungen, Musik und Spielen bietet zudem eine weitere starke Dichotomie zu Tod und Chaos, die außerhalb der Zuflucht stattfinden. Eben diese werden bereits auf den ersten Seiten des Buches mehr als ausführlich dargelegt. Boccaccio beschreibt grausam genau mit der Gleichsetzung der Leiche eines Menschen und einer Ziege, wie mit den Verstorbenen umgegangen wurde. Berge von Leichen machten es unmöglich, Begräbnisse abzuhalten oder darauf Rücksicht zu nehmen, dass es sich einst um Menschen handelte, die geliebt wurden und mit Achtung und Respekt behandelt werden sollten.

Flucht vor dem scheinbar Unausweichlichem

COVID-19 ist zum Glück dank des medizinischen Fortschritts und den Eigenschaften der Krankheit selbst nicht gänzlich mit der Pest zu vergleichen, jedoch sollte man einen Virus, der heutzutage zu einer globalen Pandemie führt, nicht unterschätzen. Die Maßnahmen der verschiedenen Regierungen sollen zudem vor allem die Gesundheitssysteme schützen, damit diese den Krankheitswellen standhalten können, bis ein Impfstoff gefunden ist. Boccaccios Gesellschaft im Dekameron schafft es, den alptraumhaften Auswirkungen der Pest auf dem abgelegenen Anwesen körperlich zu entgehen und entflieht damit auch den moralischen und emotionalen Auswirkungen der Krankheit, denn nicht einer der zehn jungen Erwachsenen hat keinen Verlust an die Pest innerhalb der Familie zu betrauern. Vor allem eben diese Altersgruppe ist auch heute gefragt, denn selbst wenn es sich bei ihnen um die meist eher harmlosen Krankheitsverläufe handelt, wurde schon bald unter der Generation vor allem der Gedanke fassbar, sich um die Gesundheit von Eltern und Großeltern zu sorgen.

Gemeinwohl steht über dem eigenen Bedürfnis

Das Dekameron zeigt hier einen enormen Unterschied zum heutigen Altruismus, denn vor allem in der Osterzeit war es scheinbar undenkbar, den Kontakt zu den Verwandten komplett abzubrechen. Auch wenn viele auf heimische Besuche verzichteten, halfen digitale Verbindungen durch Videoanrufe aus. Um die Kontaktlosigkeit im Dekameron zu überstehen, nahmen die zehn jungen Adligen auch je einen Bediensteten mit, um natürlich nicht gänzlich auf ihren Luxus verzichten zu müssen.

Altruismus als Gegenmittel

Das Dekameron zeigt, wie viel schlimmer die Situation noch sein könnte, denn was damals hunderte Leichen waren, wären heute abertausende. Auch wenn uns Bilder aus Italien mit Kolonnenleichentransporten und Massengräbern aus New York uns schockierend vor Augen führen, wie katastrophal sich noch heute Pandemien auswirken können, ist nicht außer Acht zu lassen, wie fähig die globalen Expertenteams und die Medizin-Technologien unserer Zeit sind.

Auch wenn verschiedene Lockerungen der Maßnahmen auf den ersten Blick nicht sinnvoll erscheinen und die Maskenpflicht in speziellen öffentlichen Bereichen dennoch ein großer Eingriff in unser Leben ist, sollte man berücksichtigen, dass es ein Versuch ist, unsere Wirtschaft vor einem totalen Zusammenbruch zu schützen. Die freie Meinungsäußerung dazu ist natürlich niemanden zu verwehren, aber wir sind momentan auf den gemeinsamen Altruismus angewiesen. Momentan steht das Allgemeinwohl nun einmal über dem eigenen Bedürfnis, denn sonst steht bald mehr auf dem Spiel als Gesundheit und Wirtschaft.

Das Dekameron (Il Decamerone), Giovanni Boccaccio, 100-teilige Novellensammlung, entstanden zwischen 1349 und 1353.

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