Der bravouröse Bernhard – Kapitel 3
Eine Fortsetzungsgeschichte
Von Rike Düsterhöft
Tannes Herz prescht mit einem gewaltigen Satz nach vorne und wummert wie wild in ihrem Brustkorb. „Scheiße“, murmelt sie und fängt an zu schwitzen. Nervös krallen sich ihre Fingernägel in die staubigen Polster der Bahnsitze. „Ihre Fahrkarten bitte“ – wieder hört sie die hohe Stimme der Schaffnerin bedrohlich durch den Zug klirren. Jetzt oder nie. Sie musste sofort handeln, sonst würde sie gleich ein dickes Bußgeld an der Backe haben und das konnte sie sich mit ihrem derzeitigem Hungerlohn auf gar keinen Fall leisten.
Mit zittrigen Beinchen stemmt sich Tanne in die Höhe, atmet tief durch und schnippt ein paar Fussel aus ihren Ästen. Dann schlendert sie betont lässig nach rechts – durch das Abteil und weg von der Schaffnerin. Cool bleiben. Die Leute starren sie trotzdem an, beobachten missbilligend wie sie sich im wuchtigem Nadelkleid durch die engen Sitzreihen zwängt. Einer ihrer Äste streift einen lesenden Opa am Hemd und er pampt sie zornig an. „‚Tschuldigung“, lächelt sie verkrampft und geht weiter.
Tanne öffnet die elektronische Zwischentür zum nächsten Waggon. Zu ihrer Erleichterung sieht sie neben sich ein WC-Zeichen auf billigem Pressholz leuchten. Zum zweiten Mal an diesem Tag schließt sie sich auf einem öffentlichen Klo ein. Der Geruch von aggressivem Desinfektionsmittel brennt ihr in die Nasenlöcher und das bläuliche Neonlicht lässt ihr Gesicht im Spiegel noch blasser erscheinen als sonst. Seufzend setzt sich Tanne auf die schmierige Kloschüssel, während der Zug auf und ab holpert. Hier, auf dem kalten Toilette, wird sie sich verstecken, bis die Absätze der Schaffnerin ins nächste Abteil geklackt sind.
Tanne wirft einen Blick aus dem kleinen Fenster neben sich. Draußen herrscht die pechschwarze Nacht. Nasse Schneeflocken matschen gegen die Scheibe und hinterlassen schnell-fließende Schlieren auf dem milchigem Glas. Sie streckt ihre noch immer zitternde Fingerspitze aus, zieht die feinen Linien nach und versinkt in Gedanken. Was zur Hölle tat sie hier eigentlich? Wer fischt ein Handy aus einem dreckigen Klo, folgt einem gruseligen Kind und steigt in einen Zug gen Norden, einfach so? Welche Art von kranker Quarter-Life-Crisis war das hier? Beim nächsten Halt würde sie aussteigen, zurückfahren und sich dann bei Karim für ihr Fehlen entschuldigen. Sie würde ihm irgendeine Geschichte von einem plötzlichem Brechanfall auftischen. Sicherlich würde sie so ihren Job zurückbekommen und morgen wieder Marzipanherzen an hetzende Passanten verteilen können.
Tanne lehnt ihre Stirn gegen das nasse Fenster und lauscht. Ab und zu geht die elektronische Tür draußen auf und jemand schreitet durch den Raum. Ihr Nacken fängt an zu schmerzen. Sie rollt den Kopf von einer Seite zur anderen und rutscht ungeduldig auf der Klobrille herum.
BRRWWT – Unter ihren grünen Nadeln fängt das fremde Handy an zu vibrieren. Erschrocken fischt sie es hervor. Das Nachrichtensymbol ploppt auf. „Luft ist rein. Komm raus“, steht auf dem zersprungenen Display, das immer noch nach Urin müffelt. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Aufgestellte Nackenhaare. War das etwa der bravouröse Bernhard? Kannte dieser geheimnisvolle Kerl den Code der Matrix oder warum wusste er scheinbar, dass sie sich hier versteckte?
Tanne steht zögerlich auf. „Mal sehen ob er Recht hat“, grummelt sie und schiebt mutig den Riegel zurück. Sie lugt aus dem Spalt hervor und tatsächlich sieht sie nun die Schaffnerin links von sich mit einem jungen Pärchen reden. Schnell springt Tanne aus der Toilette und dreht sich zur anderen Seite.
Urplötzlich bemerkt sie ein paar Meter neben sich ein Kind mit rotem Mützchen und überdimensionaler Jacke. Mitten auf dem Gang steht das Kind, mit in die Hüfte gestemmten Händen, und grinst ihr frech entgegen. Das Handykind.
„Hey!“, schreit Tanne und stürzt sich in den Gang. Das Kind rennt davon. „Bleib stehen!“, sie rast im Affenzahn durch den Gang und rempelt den Opa zum wiederholten Male an. Egal. Sie stürmt weiter. Das rote Mützchen verschwindet flink durch die nächste Tür. Tanne hinterher. Das Mützchen ist verdammt schnell. Tanne quetscht sich ohne Rücksicht auf Verluste weiter durch die Gänge. Ihr Herz pumpt Adrenalin durch jede einzelne ihrer explodierenden Adern.
Keuchend presst sich Tanne durch die nächste Tür. Erste Klasse, Einzelabteile links – ihr Tunnelblick nimmt wahr, wie rotes Mützchen in das hinterste Abteil der Reihe schnellt. Wie ein Raubtier, das sich auf einen präzisen Angriff vorbereitet, schreitet Tanne mit angespannten Muskeln den Flur hinunter. Gleich würde sie Antworten haben, gleich würde sie wissen, was dieses Kind von ihr wollte. Tanne erreicht den letzten Abschnitt und stößt mit aller Kraft die Tür auf. Gleißendes Licht strahlt ihr entgegen. Aber – …nichts! Da ist niemand.
Die Aufregung fällt von Tanne ab und weicht einer niederschlagenden Enttäuschung. Sie betritt das Abteil trotzdem und schaut unter jedem Polstersitz nach, ob sich hier nicht doch ein Kind mit Mütze versteckt. Sie findet bloß Staub, Brötchenkrümel und benutzte Taschentücher. Aber ein Schauer läuft ihr eiskalt über den Rücken und sie hat das Gefühl, dass ein Paar stechende Augen in ihrem Nacken brennt. Blitzschnell dreht sie sich um – niemand ist hier. Wo ist bloß das Kind geblieben? Sie wurde wahnsinnig.
Sie sucht den Gang ab. „Haben sie ein Kind mit roter Mütze und weiter Jacke gesehen?“, fragt sie die Frau im nächsten Abteil und reißt ihre großen Augen auf. „Äh- Nein. Hier war kein Kind“, die Frau tupft sich den Mund mit einer Serviette ab und sieht sie leicht entgeistert an. „Danke“, sagt Tanne und zieht den Mundwinkel noch etwas weiter nach unten. Sie konnte ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen und fühlte sich wie benebelt. Sie sollte Hilfe holen, das hier wurde irgendwie zu gruselig. Sie bekam Nachrichten auf ein rätselhaftes Klo-Handy und wurde von einem Kind verfolgt. Verdammt, so hörte es sich noch verrückter an.
Mit einem dicken Kloß in der Kehle lässt sich Tanne erschöpft in das leere Abteil zurückfallen. Sie musste jetzt klar denken, ruhig bleiben und nicht mehr irrationale Entscheidungen fällen. Sie greift nach dem Handy und tippt die einzige Nummer ein, die sie in- und auswendig kennt: Die Nummer von Josh, der sie und die Stadt einst verlassen hatte, aber nie aus ihrem Kopf verschwunden war.
Es tutet und dann geht seine Mailbox ran. „Josh, ich bin’s – Tanne. Wenn du das hier hörst, dann bin ich in Bremen- nein eigentlich– eigentlich nicht. Ich muss hier raus. Weißt du? Ich–”.
Sie bricht ab und legt auf. Die peinliche Nachricht bereut sie sofort. Bernhards mysteriöse Spur würde sie nicht weiter verfolgen und dieses Kind konnte sie auch mal am Allerwertesten. Das Abenteuer war hier und jetzt vorbei. Bei der nächsten Haltestelle – egal wo das sein sollte – würde sie aussteigen und den nächsten Zug zurück gen Stuttgart nehmen.
Voller Entschlossenheit öffnet Tanne den oberen Teil des Fensters. Ein kalter Luftzug schneidet ihre Handfläche. Unbeirrt schmeißt Tanne das fremde Handy aus dem Fenster; dieser Bernhard-Spinner würde sie nicht weiter verfolgen können. Das Kind würde sich wohl oder übel ein neues Telefon zulegen müssen. Langsam macht sich eine regelrechte Wut in Tanne breit; sie verflucht die Welt und all ihre Tücken. Womit hatte sie das hier schließlich verdient? Ihr Magen knurrt und ihre Laune sinkt stetig weiter. Die Anzeigetafel über Tannes Kopf verrät, dass Köln der nächste Halt ist. Aha Köln – sehr schön, denkt Tanne. Nicht allzu weit weg von Stuttgart. Sie würde schnell wieder zuhause sein.
Tanne dreht mürrisch Däumchen und starrt aus dem dunklen Fenster, bis der Zug nach einigen endlos-anfühlenden Minuten endlich in den Kölner Hauptbahnhof einfährt. Mit einem Ruck bleibt der Schienenkoloss stehen und Menschen mit Koffern eilen aus dem Zug. Tanne hält vorsichtig Ausschau nach roten Mützchen oder potenziellen Bernhards. Aber niemand dergleichen ist zu sehen.
Sie schließt sich dem Strom der Menschenmassen an, der sich durch die Bahnhofsgänge windet. Tanne studiert die Abfahrtstafel und sieht, dass sie in einer Stunde zurückfahren kann. Das kommt ihr ziemlich lange vor und so entscheidet sie sich, etwas Essen zu holen um die Zeit totzuschlagen und das Loch in ihrem Magen zu füllen. Bei McDonalds verschlingt sie Burger mit Ketchup-beladenen Pommes und spült alles mit einer Coca Cola hinunter, während sie die trostlosen Straßen betrachtet. Noch dreißig Minuten. Sie wühlt in den Tiefen ihres Nadelkostüms und zieht ihre Notfall-Schachtel Kippen hervor. Wenn das Leben allzu schwer wird, hat Tanne diese Schachtel, um besonders derbe Momente zu überstehen. Eine teure und ungesunde Angewohnheit, aber eine miserable Quarter-Midlife-Crisis war Tanne Ausrede genug, um zu rauchen.
Vor McDonalds zündet Tanne nun die knisternde Zigarette an. Ihre Lippen hauchen Rauch in die dunkle Luft und sie betrachtet wie sich die Schwaden ins nirgendwo auflösten, bis nur noch der glitzernde Sternenhimmel zu sehen ist. Doch auf einmal ist es wieder da; das scheußliche Gefühl beobachtet zu werden. Irritiert blickt Tanne über ihre Schulter. Da sind nur Passanten mit Rollkoffern, ein paar Obdachlose und betrunkene Jugendliche, die Burger schmatzen. Diese ganze Aktion heute hat sie paranoid gemacht. Sie wünscht sich so sehr in ihr warmes Bett in Stuttgart zurück. Tanne führt die Zigarette erneut an ihre Lippe.
Da zerreißt ein Knall die feuchte Abendluft. Ein rotes Auto schmettert die Straße hinunter und kommt schlitternd ein paar Meter vor ihr zum Stehen. Tanne bleibt wie angewurzelt stehen und beobachtet angsterfüllt das Szenario. Sie kann nicht wegrennen. Klack – die Autotür fliegt auf und ein Mann mit grauem Hut steigt aus. Noch bevor er bei ihr ist, weiß Tanne, dass nun nichts Gutes folgen kann.
Erstarrt blickt sie auf ein Paar schwarzer Stiefel hinunter, die immer näher schreiten. „Steigen sie ein, mein Liebe“, begrüßt sie der Mann mit schmalen Augen und hebt kurz seinen Hut an.
„Wa- Nein! Niemals!“, entrüstet sich Tanne und fasst sich wieder. „Danke, ich sterbe heute nicht“, schmettert sie dem Mann entgegen und tritt ihre Kippe auf dem Boden aus.
„Sie sterben doch nicht. Keine Angst“, lacht der Mann mit tiefer Stimme.
„Ich möchte auch nicht entführt werden“, sagt Tanne noch lauter und machte einen Schritt nach hinten. Es ist Zeit davon zu laufen. Aber sie kann noch nicht.
„Sind Sie Bernhard?“, schreit sie beinahe. Der Mann lächelte nur. „Sind Sie Bernhard?“, wiederholt sie und fuchtelt mit ihren Händen vor seinem Gesicht herum. Sie will unbedingt eine Antwort auf ihre brennende Frage. Aber keine Reaktion. Stattdessen zieht er etwas aus seiner Tasche – es ist das gesplitterte Handy, das sie aus dem Zugfenster geworfen hat. Tanne stockt der Atem.
„Hier ist jemand für Sie“, sagt der Mann und hält ihr das Handy entgegen. Sie nimmt es an sich und drückt es an ihre Ohrmuschel. Dann hört sie Josh.
„Tanne- Tanne?! Tanne, bist du dran?“. Seine Stimme ist viel höher und schneller als sonst.
„Was zur Hölle, Josh? Was soll das hier?“, schreit Tanne ins Telefon.
„Tanne steig ein- steig einfach ein! Du musst einsteigen, hörst du? Das ist wichtig!“
„Was? Josh?! Wo bist du?“. Sie ist panisch.
„Steig einfach ein, steig bitte ein, Tanne!“ Dann ist nur noch ein Tuten zu hören. Er hat aufgelegt. Er ist einfach weg.
„Nach Ihnen“, schmunzelt der Mann mit Hut und hält die Tür zum roten Auto auf. Sie hasst sich selbst dafür, aber steigt ein. Die Tür schließt sich. Sie dreht sich um und neben ihr lächelt ein Kind mit rotem Mützchen.
Fortsetzung folgt