Der bravouröse Bernhard – Kapitel 1

Eine Fortsetzungsgeschichte

Von Farukh Sauerwein

 

Innenstadt, Anfang Dezember, nachmittags.

Tanne ist heiser. Die Schicht geht noch drei Stunden und schon jetzt rinnt ihr der Schweiß die Ästchen hinab. Sie hat Hunger, obwohl ihr der Verkäufer am Stand mit der lappländischen Rentiersalami jede halbe Stunde im Vorbeigehen eine Probierscheibe in den Mund steckt.

– Oh Tannenbaum, wohl bekommts, ruft er ihr hinterher und sie macht ein Gesicht als wäre schon Knut-Fest. Die Sorten wechseln täglich: Traditionell, Edelschimmel, geräuchert, überlagert. Letztere hängt immer besonders lange zwischen den Zähnen.

Und jetzt muss Tanne auch noch auf Klo. Laut Vertrag steht ihr in der Arbeitszeit ein halbe Stunde Pause zu. Die hat sie vorhin schon bei Dirk verbracht, der immer am Wochenende im Outlet-Store moderiert. Einen wunderbaren Kimono haben Sie dort, da heißt es schnell zuschlagen bevor der Preis wieder steigt. Bomberjacke gefällig? Ich würde sie auch tragen wenn sie mir nur halb so gut stehen würde wie Ihnen. Keine Angst, für die Kids haben wir auch jugendfreies Spielzeug. Haben sie gerade Arschloch gesagt? Tanne leistet ihm gern Gesellschaft, dann ist sie nicht die einzige, die aus Geldnot dumme Sprüche aufsagt. Zumindest für die dreißig Minuten.

Tanne geht in einem Elektronikladen und jemand hält ihr sogar die Tür auf, weil sie mit den Ästen ja so schlecht greifen kann. Der Laden ist überheizt, aber immerhin läuft keine Weihnachtsmusik. Ein Mann mit Alditüte steht mit Kopfhörern in der CD-Abteilung und tanzt zu Modern Talking. Er ist der einzige, der sich nicht nach ihr umdreht. Hier drin darf sie keine Marzipanherzen verteilen, sonst wird sie rausgeschmissen. Ist ihr letztes Jahr passiert.

Drüben bei den Waschmaschinen, zwischen Miele und Bosch, zeigt ein WC-Schild in Richtung Notausgang. Dahinter wird es schlagartig ruhiger. Natürlich verlangen die Aasgeier 50 Cent für die Benutzung. Auf Klo braucht Tanne eine Viertelstunde, um das ganze Zeug auszuziehen. Verdammtes Polyester. Darunter trägt sie ihre Alltagsverkleidung, in der sie in der ganzen Stadt vielleicht drei Menschen erkennen würden. Drei Menschen und Josh. Die letzten Jahre kam er sie immer in der Fußgängerzone besuchen. Er Schneemann, sie Tanne. Irgendwann haben sie Marzipanherz gegen Dominostein getauscht und irgendwann sind sie nach Feierabend zusammen nach Hause gegangen und irgendwann hat sie dann nur noch allein für Karim gearbeitet weil Josh etwas Besseres gefunden hat. Da hat er die Stadt verlassen und ein bisschen auch sie. Ich mach das für uns beide, meinte er zum Abschied, und Tanne dachte, ich doch auch.

Als sie fast fertig ist, hört Tanne das Schluchzen aus der anderen Kabine.

– Alles gut?, fragt sie, brauchst du einen Tampon? Keine Reaktion. Sie streift sich die Äste und Nadeln wieder über den schwitzenden Körper und klopft an der Nebentür.

– Darf ich reinkommen?

Die Tür ist nicht abgeschlossen.

– Ich komme jetzt rein, ja?

Vor der Kloschüssel hockt ein Kind, als müsse es sich übergeben. Es trägt eine dicke Daunenjacke, die ihm erst in ein paar Jahren passen wird. Als Tanne es an der Schulter berührt, dreht es sich um und schaut sie erschrocken an.

– Ist dir schlecht? Wo ist denn deine Mama?

Das Kind zeigt traurig auf die Kloschüssel, in der ein Smartphone schwimmt.

– Oh nein, ist dir das da rein gefallen? Soll ich es rausholen?

Nicken. Tanne versucht es erst mit der Klobürste, aber das Handy flutscht immer wieder ins Spülwasser und wirbelt dabei kleine Bröckchen und Fetzen auf wie ein Taucher über dem Meeresgrund. Mit der bloßen Hand klappt es dann. Das Display des Handys ist gesprungen, reagiert aber noch auf Berührungen. Das Kind reißt es ihr aus der Hand und versucht vergeblich den Bildschirm zu entsperren. Dann fängt es wieder zu weinen an.

– Kind, was ist denn? Erinnerst du dich nicht mehr an den Code?

Tanne hat Angst zu aufdringlich zu werden, aber das Kind wirft sich ihr um den Hals und schnoddert ihr Kostüm voll. Die Reinigung wird ihr Karim vom Lohn abziehen.

– Nicht meins. Gehört dem bravourösen Bernhard.

– Bernhard? Ist das dein Vater?

Das Kind zuckt zusammen, als hätte es sich vor etwas erschrocken. Es springt auf und zerrt an Tannes Zweigen, komm mit, sagen seine Augen, aber den Mund presst es so fest zusammen, dass das Blut aus den Lippen weicht. Bevor Tanne überlegen kann, ob jetzt der Moment gekommen ist, die Polizei zu rufen, zieht das Kind sie einfach hinter sich her. Zieht sie aus der Toilette, zurück in den Elektromarkt, zieht sie vorbei an den Kaffeevollautomaten und Photonenstaubsaugern und durch den Kassenbereich, zieht sie wie einen lebensgroßen Luftballon durch das Kaufhaus und erst als sie auf der Straße stehen, lässt es Tanne los und vergräbt die Hände in den viel zu großen Jackentaschen. Sie bemerkt, dass sie den Korb mit den Marzipanherzen auf der Toilette hat stehen lassen, will das Kind aber nicht einfach hier stehen lassen. Karim wird sie heute Abend rausschmeißen, und wenn er es nicht tut, dann nur, um sie weiter zu demütigen.

– Wie heißt du denn?

– Tschut tschut.

– Das ist dein Name?

– Nein! Tschut tschut. Sieben!

Das Kind zeigt die Straße runter und beginnt loszulaufen, Tanne folgt ihm. Sie gehen in Richtung Bahnhof, weitab von Tannes Route, aber sie stuft das hier als Notfall ein und dann wird es in Ordnung sein. Die Straßen sind alle dicht wegen der Vorbereitungen für das große Selbstmordattentat nächsten Freitag. Ab und zu hallen ein paar Probesprengungen durch die Straßen und dann ist da plötzlich dieses ungeduldige Grinsen auf allen Gesichtern. Die Stadtverwaltung rechnet mit einem neuen Besucherrekord und lässt schon Zusatztribünen errichten.

Auf dem Bahnhofsvorplatz findet gerade eine Schlägerei statt. Tanne nimmt das Kind an der Hand und lotst sie um das Menschenknäuel herum. Jetzt sieht es fast aus, als würden sie zusammengehören.

– Sieben, bravouröser Bernhard, Sieben, ruft das Kind, reißt sich von Tanne los und die Leute drehen sich zu ihnen um.

Jetzt rennt es auch noch weg. Tanne kommt nicht hinterher, ihre Schritte sind viel zu kurz, sie ist doch nur ein Baum! Sie rempelt Leute an, ey du Scheißtanne, pass doch auf, rutscht aus, geschieht der recht, und schlittert auf den Knien in die Schlange vor einer Bäckerei, sagen Sie mal geht’s noch? Sorry, sorry, ich…

Das Kind ist weg. Tanne steht auf, ihr Nadelkleid ist gut gepolstert. An den Knien ist das Kostüm zu zwei schwarzen Klumpen zusammengeschmolzen.

– Tschuldigung, haben sie ein Kind gesehen? Ungefähr zehn Jahre, zu große Jacke, Mundgeruch?

– Verpiss dich, Scheißtanne. Hättest du was Richtiges gelernt.

– Schon gut, schon gut.

Ein Mann fasst sie ans Geäst.

– Tschuldigung, ist das Ihr‘s?

– Ja, danke.

Das Handy stinkt nach Abwasser. Bernhards Handy. Sieben. Gleis sieben, um sieben Uhr, RE 7? Das Handy beginnt zu vibrieren.

Fortsetzung folgt…

 

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