Wintergeflüster

Kapitel 1

Von Christine Leitner

Eine Sternschnuppe zog über den Himmel und für einen kurzen Moment sah ich ihren silbernen Schweif am sternenklaren Himmel aufleuchten. Grau und dumpf erschien mir dagegen mein Atem, der in kleinen Wölkchen vor meinem Gesicht gen Himmel stieg. Grau und dumpf wie meine Gedanken, die mich wie eine Nebelwolke einhüllten und mich zu erdrücken drohten. Für den Bruchteil einer Sekunde erwog ich, mich noch etwas auf die Bank unter den Tannen zu setzen und das rege Funkeln vor dem dunklen Blau zu beobachten. So würde ich wenigstens mit einem schönen Bild in meinem Kopf von hier verschwinden. Meine letzten Erinnerungen würden sich auf jenen Ort beschränken, der mir seit meiner Kindheit der liebste war: die bogenförmige Brücke über dem kleinen Bächlein im Wald direkt hinter unserem Haus. Ein bisschen traurig war es schon, diesen Ort nun für immer hinter mir zu lassen. Aber ich hatte mich entschieden und wollte den Abschied nicht unnötig lange hinauszögern. Schließlich holte mich auch hier die Realität stets wieder ein, mein Zufluchtsort konnte mich auch nicht länger vor dem Scherbenhaufen meines Lebens bewahren.

Schwer atmend umfasste ich das hölzerne Geländer der Brücke fester. Feucht und rau fühlte es sich unter meinen steif gefrorenen Fingern an. Feiner Schnee rieselte ins Wasser unter mir, als ich nervös auf dem Geländer hin und her rutschte. Wie würde es wohl meine Familie aufnehmen, wenn sie morgen feststellten, dass ich gegangen war und sie zurückgelassen hatte? Würden sie mich suchen? Rasch wischte ich die Gedanken fort – sie waren nicht wichtig. Mein Rucksack stand fertig gepackt neben der kleinen Bank. Außer einer Flasche Wasser und einem Apfel enthielt er nichts. Mein Lieblingsbuch hatte ich aufgeschlagen auf die Bank gelegt. Warum ich das Zeug überhaupt mitgenommen hatte, wusste ich selbst nicht. Wahrscheinlich hatte mein Unterbewusstsein gehofft, dass ich mich in letzter Sekunde umentscheiden und es bei einem ausgiebigen Waldspaziergang belassen würde. Doch es hatte sich getäuscht, denn meine Verzweiflung und Angst vor all dem wogen stärker als die Angst vor dem, was mich erwarten würde. Aber was sollte schon schlimmes passieren? Gut, es würde vielleicht ein bisschen kalt werden, ich durfte mich nicht zu ungeschickt anstellen, um mir Qualen zu ersparen. Mit einem letzten Blick über die Schulter vergewisserte ich mich, dass alles so war, wie ich es geplant hatte. Wenn ich Glück hatte, dann würde es nach einem Unfall aussehen.

Ich ermahnte mich zur Konzentration und stand langsam vom Gelände auf, die Finger jedoch eisern festgekrallt. Als ich kurz aufsah, erhaschte ich gerade noch den Blick auf eine weitere Sternschnuppe. Einen Wunsch! Ich brauchte noch einen letzten Wunsch, bevor ich ging. Die Wahl fiel schnell: kurz, schmerzlos und schnell sollte es gehen, ein einziger Augenblick, wie die Sternschnuppe, die am Himmel verglüht. Waren das jetzt drei Wünsche? Eine plötzliches Knacken in meinem Rücken durchbrach das Gedankenchaos in meinem Kopf und die Stille um mich herum. Erschrocken hielt ich inne, wagte es jedoch nicht, mich umzudrehen. Mein Herz raste. Hatte es das etwa schon die ganze Zeit getan? Einen Moment verharrte ich krampfhaft. Doch die Stille hielt an. Ganz sicher hatte ich mir das Geräusch nur eingebildet. Ich war einfach viel zu nervös. Verständlich, schließlich entscheidet man sich nicht alle Tage dazu, das Leben hinter sich zu lassen. Ich gönnte mir einen Augenblick, um mich zu beruhigen und richtete meinen Blick dann geradeaus. Es würde ganz schnell gehen. Nur wenige Meter trennten mich von dem kalten aufbrausenden Nass. Nur wenige Zentimeter vor dem freien Fall.

Still und leise würde mein Leben erlöschen wie das Licht der Sternschnuppen am Himmel. Mit dem Unterschied, dass mich keiner beobachtete. Mit der rechten Hand ließ ich das Gelände los und hing und stand halb über dem Abgrund. Wie würde es sich anfühlen? Ein Prickeln durchlief meinen Körper und mein Herz schlug wieder ein paar Takte höher. Sollte ich die Augen schließen? Der Boden unter meinen Füßen bot mir kaum Halt, denn unter der dünnen Schicht Schnee hatte sich Eis gebildet. Ich wagte einen letzten Blick über die linke Schulter als sich der Schnee von der Tanne hinter der kleinen Bank löste und ein verhaltenes Fluchen zu vernehmen war. Verdammt, hatte ich etwa Zuschauer?! Wirklich Gedanken darüber konnte ich mir keine mehr machen, denn in dem Moment rutschte ich mit dem linken Fuß an der Kante ab, verlor das Gleichgewicht und schlug mit der rechten Hand gegen das Gelände. Vor Schmerz ließ ich mit der linken Hand los und stürzte in die Tiefe. Der Aufprall kam unerwartet und ganz anders als gedacht. Ein kleiner Strudel zog mich in die Tiefe und ließ mich mit dem Kopf nach unten umhertreiben. Die Haut in meinem Gesicht brannte unangenehm, ich musste wohl mit dem Gesicht aufgekommen sein. Das Wasser stach wie spitze Nadeln in meine Haut – oder war es Eis? In meinem Mund schmeckte ich Blut, als das Wasser darin eindrang. Panisch begann ich mit den Armen zu rudern. Ich bekam keine Luft mehr! Meine Augen schienen hervorzuquellen und ich hatte das Gefühl, von innen und von außen erdrückt zu werden. Schwindel setzte ein und rosa, blaue, grüne, schwarze und gelbe Flecken begannen vor meinen Augen zu tanzen. Instinktiv versuchte ich nach Luft zu schnappen und zu schreien, aber ich sah nur dicke Luftblasen, die in eine mir undefinierbare Richtung trieben.

Gerade als sich mein Blickwinkel verkleinerte durchbrach ich die Wasseroberfläche und rang nach Atem. Meine Beine und Arme waren schwach von den unkontrollierten Bewegungen und ich hatte Mühe, mich über Wasser zu halten. Irgendwie schaffte ich es ans Ufer und wankte frierend und benommen zur Brücke. Eine eisige Ruhe umgab mich. Nur ganz weit weg konnte ich das Knacken des Eises am Ufer und das Gurgeln des Bächleins hören. In meinen Ohren stand das Wasser, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich bekam es nicht heraus. Auf der Brücke konnte ich eine dunkle Silhouette ausmachen. Mit dem Rücken in meine Richtung gewandt, stand sie am Gelände und blickte ins Wasser. Ein eisiger Schauer überfiel mich. Wer kam um diese Uhrzeit noch hier her? Noch dazu bei dieser Kälte? Eine unangenehme Ruhe ging von der Gestalt aus und eine plötzliche, wahnsinnige Angst zwang mich, stehen zu bleiben. Hatte sie mich gehört? Was sollte ich tun? Wieder ins Wasser gehen? Mein Blick fiel auf das Schilf, dessen vereinzelte Halme wie knochige Finger eines Skelets kläglich unter der Brücke hervorragten. Sorgsam darauf bedacht, kein Geräusch von mir zu geben, verkroch ich mich unter dem Bogen. Von dort unten konnte ich das Spiegelbild der Gestalt im Wasser sehen. Aber außer einem verschwommenen schwarzen Umriss konnte ich nicht mehr ausmachen. Mein Atem beruhigte sich ein wenig, als sich die Gestalt schließlich abwandte und ich die Befürchtungen beiseiteschob, entdeckt zu werden. Doch die Entspannung währte nur kurz, als sich die Schritte meinem Versteck näherten und plötzlich ein Paar Stiefel keine drei Meter von mir entfernt am Ufer des Baches Halt machten.

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