Der bravouröse Bernhard – Kapitel 7
Eine Fortsetzungsgeschichte
Es dauert eine Weile, bis Tanne das Haus erreicht hat. Es ist eine Doppelhaushälfte. Da die Straße relativ schlecht beleuchtet ist, kann Tanne kaum etwas vom Haus ausmachen. Drinnen scheint alles dunkel zu sein. Jedenfalls die Zimmer, die von vorne aus zu sehen sind. Langsam geht Tanne auf das Haus zu. Okay, Tanne, versucht sie sich zu beruhigen, du schaffst das schon! Trotzdem kann sie nicht verhindern, dass ihr Atem sich beschleunigt, als sie der Eingangstür immer näher kommt. Einen Schlüssel wird Karim wohl kaum irgendwo versteckt haben, also muss Tanne ihre neu erlernte Fähigkeit anwenden. Zögerlich nimmt sie eine Haarnadel aus der Tasche und biegt sie auseinander. Ihre Hände zittern leicht, als sie versucht, sich daran zu erinnern, wie sie das Schloss knacken muss. Erst beim dritten Versuch gelingt es ihr, die Tür tatsächlich zu öffnen. Dass ihr dabei die Nadel auf den Boden fällt, merkt Tanne vor lauter Erleichterung es tatsächlich geschafft zu haben gar nicht.
„Hast du das auch gehört?“ erklingt auf einmal eine ziemlich laute Stimme aus der Wohnung. Erschrocken hält Tanne mitten in der Bewegung inne.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass die das gesagt hat! Wenn er der jetzt noch eine Rose gibt, boah ich schwöre, dann guck ich nicht mehr weiter!“
Erleichtert atmet Tanne aus. Okay, sie wurde nicht entdeckt. Stattdessen scheint irgendjemand im Haus „Der Bachelor“ zu gucken. Leise schließt Tanne die Wohnungstür und schleicht sich durch den Flur. Von hier aus sieht sie eine Tür, die einen Spalt weit offen steht. Hinter der Tür muss wohl das Wohnzimmer liegen. Neben der Tür ist eine Treppe, die nach oben führt. Das Mädchen hatte ihr gesagt, dass die Spieluhr wahrscheinlich im Schlafzimmer sein würde. Zum Glück ist heute Dienstag und Tanne weiß, dass Karim und seine Frau dienstags immer ausgehen. Er hatte es ihr einmal völlig entnervt auf der Arbeit erzählt, weil seine Frau nie mit den Dates zufrieden zu sein schien. Die Person im Wohnzimmer ist dann wahrscheinlich die Babysitterin, schlussfolgert Tanne. Langsam schleicht sich Tanne durch den Flur und versucht dabei möglichst keine Geräusche zu machen.
Jetzt, wo sie dem Wohnzimmer näher kommt, kann Tanne den Fernseher deutlich hören. Momentan läuft gerade Werbung, weswegen die vermeintliche Babysitterin sich in einer extremen Lautstärke über die Mathehausaufgaben aufregte. „Ich meine, wer soll das denn kapieren?! Reichen nicht Zahlen, wieso müssen auch noch Buchstaben in Mathe vorkommen? Das ist doch komplett bescheuert. Vielleicht sollte ich das mal googeln.“ Tanne hat mittlerweile die Treppe erreicht und schleicht langsam die Stufen hoch. Obwohl das vermutlich unnötig ist, denn sie bezweifelt, dass der schreiende Teenager da unten überhaupt etwas hört. Selbst als Tanne oben angekommen ist, kann sie sowohl den Fernseher, als auch die Stimme der Babysitterin noch deutlich hören. „Auf gute Frage hat jemand eine Lösung…“ Das bei dem Krach überhaupt jemand schlafen kann!
Tanne steht in einem Flur, von dem mehrere Türen abgehen. Leider deutet nichts darauf hin, was sich hinter den Türen befinden könnte. Zögerlich macht Tanne einen Schritt auf die erste Tür zu und öffnet sie. Der Raum, den sie betritt, ist völlig dunkel. Sie nimmt ihr Handy aus der Tasche und leuchtet in den Raum. Ein Badezimmer. Okay, falscher Raum. Tanne will sich umdrehen und gehen, als ihr plötzlich ein kleiner Junge gegenübersteht. Shit!
„Was machst du da?“
Auf einmal geht das Licht im Badezimmer an und der Junge mustert sie eindringlich. „Du bist nicht Leonie!“ stellt er fest.
Tanne schüttelt den Kopf. „Bist du ein Einbrecher?“ fragt der Junge. Er scheint jedoch keinerlei Angst zu haben, sondern wirkt eher neugierig.
„Nein… ich ähm…“ verdammt, was soll sie denn jetzt sagen?
„Ich bin eine Freundin von Leonie“, sagt sie schließlich.
„Und was machst du hier?“
„Ich… ich muss äh… auf Toilette.“
„Oh“ sagt der Junge. „Ich auch“ sagt er lächelnd. „Zum Glück haben wir zwei Klos“ und bevor Tanne noch etwas sagen kann, verschwindet er nach unten. Verdammt, verdammt, verdammt! Soviel zum Thema, sich nicht erwischen lassen. Tanne spürt, wie die Panik in ihr aufsteigt. Nicht noch eine Panikattacke, fleht sie. Und tatsächlich gelingt es dieses mal zum Glück, ihre Atmung nicht außer Kontrolle geraten zu lassen.
Allerdings folgt danach schon der nächste Schock.
„Was redest du da für einen Unsinn? Hier ist niemand!“ Die laute Babysitterin von unten – Leonie – vermutlich. Ihre Stimme wird lauter und panisch realisiert Tanne, dass sie auf den Weg nach oben ist. Sie kann auf keinen Fall im Badezimmer bleiben. Denn wahrscheinlich ist sie genau dorthin unterwegs. Also flüchtet sie sich schnell in das angrenzende Zimmer. Gerade noch rechtzeitig, denn wenige Zeit später hört sie, wie die Tür daneben aufgerissen wird. „Siehst du? Hier ist niemand! Und jetzt geh wieder schlafen.“ „Aber“, hört Tanne einen leisen Protest. „Aber nichts! Willst du etwa deinen Bruder aufwecken?“ Bei der Lautstärke in der sie redet, ist es wohl eher sie selbst, die irgendwen aufwecken könnte, denkt Tanne. Der Junge scheint jedoch daraufhin Ruhe zu geben, denn Tanne hört keine Proteste mehr.
„Oh mein Gott, kannst du das glauben? Als ob hier jemand im Haus wäre! Das würde ich doch mitkriegen!“ Tanne bezweifelt, dass diese Leonie überhaupt etwas mitkriegen würde. Zum Glück! Erneut ist sie geradeso davongekommen. Sie nimmt ihr Handy und wagt es, einen Blick ins Zimmer zu werfen. Dabei trifft der Strahl ihrer Handytaschenlampe direkt auf zwei kleine, blaue Augen. Ein Baby strahlt sie vergnügt an.
„Vielleicht sollte ich mal gucken, ob der Kleine nicht aufgewacht ist, jetzt wo ich eh schon oben bin“, ist die nervige Stimme auf einmal wieder ganz nah. Verzweifelt sieht Tanne sich im Zimmer um. Das Baby streckt sein Arm aus und scheint auf etwas zu zeigen. Tanne schaut in die Richtung und sieht einen riesigen Schrank. Schnell schlüpft sie hinein. Keinen Moment zu spät, denn Sekunden später öffnet sich die Tür. Das Licht geht an und Tanne kann durch eine kleine Spalte beobachten, wie Leonie auf das Kinderbett zugeht. Anders als eben sitzt das Baby nicht mehr, sondern liegt mittlerweile und die Augen sind geschlossen. Gruselig! „Gott sei Dank, es schläft“ brüllt Leonie in ihr Handy, bevor sie wieder verschwindet. Tanne wartet eine Weile, bevor sie sich aus ihrem Versteck traut. Als sie ihre Taschenlampe wieder anmacht, sieht sie, wie das Baby sie fröhlich anlächelt. Scheint als würde das Baby die Babysitterin auch nicht mögen.
Tanne lächelt zurück, bevor sie sich aus dem Zimmer schleicht. Die Werbung scheint mittlerweile vorbei zu sein, denn unten schreit Leonie Anmerkungen zum Bachelor in ihr Handy. Tanne öffnet also die nächste Tür und dieses mal hat sie endlich Glück: Das Schlafzimmer! Erleichtert beginnt Tanne die Suche nach der Spieluhr. Wenn ich eine Spieluhr wäre, wo würde ich mich verstecken, fragt Tanne sich und schüttelt einen kurzen Augenblick später ihren Kopf über ihre dummen Gedanken.
Irgendwann findet Tanne tatsächlich endlich eine Dose mit einer Spieluhr. Schnell nimmt Tanne das gute Stück und legt all die Sachen, die sie auf ihrer Suche durchwühlt hat, wieder auf ihren Platz. Okay, jetzt muss sie nur noch raus. Erleichtert atmet Tanne aus. Das dürfte kein Problem sein, denn Leonie scheint voll und ganz mit Fernsehen und sich laut brüllend darüber aufzuregen beschäftigt zu sein. Also schleicht sich Tanne leise die Treppe runter, durch den Flur und zieht schließlich die Haustür hinter sich zu. Das war einfacher als gedacht.
Allerdings hat sie eine Regel gebrochen, denn der kleine Junge hatte sie gesehen. Aber vielleicht glaubt ihm ja niemand und das Ganze wird als Albtraum abgetan, versucht Tanne sich zu beruhigen, während sie sich von dem Haus entfernt. Sie wagt einen kurzen Blick auf die Uhr. Sie hat zwanzig Minuten gebraucht. Okay, vielleicht etwas länger als sie sollte, aber sie musste die verdammte Spieluhr ja auch erst einmal finden. Immerhin hat sie keine Spuren hinterlassen. Das ist das Wichtigste. Tanne befindet sich mittlerweile wieder auf der Straße und bemerkt, dass von vorne ein Auto auf sie zukommt. Einen kurzen Augenblick lang denkt sie, es könnte das Mädchen sein. Das Auto kommt näher und langsam fangen die Scheinwerfer an, Tanne zu blenden. Direkt neben ihr hält es auf einmal an. Das Fenster öffnet sich und plötzlich ertönt Karims Stimme: „Tanne? Was machst du denn hier? Und wieso zum Teufel bist du einfach von deiner Schicht abgehauen?“ Bevor Tanne irgendetwas antworten kann, kommt ihr eine andere Stimme zuvor „Karim! Kannst du das nicht morgen klären? Ich bin müde!“ „Ja gut“. Karim sieht sie durchdringend an: „Morgen Tanne! Du hast besser eine gute Erklärung für das alles.“ Langsam schließt sich das Fenster wieder. Bevor es jedoch ganz zu ist, fügt Karim noch etwas hinzu: „Schöne Spieluhr!“
Erstarrt guckt Tanne auf die Spieluhr, die sie noch immer in der Hand hält. Bevor sie irgendwas sagen kann, fährt das Auto jedoch schon weiter. Tanne dreht sich um und sieht wie das Auto vor dem Doppelhaus hält. Allerdings nicht vor der Hälfte, aus der Tanne gerade raus gekommen ist. Zitternd sieht Tanne wie Karim und seine Frau aus dem Auto steigen und in der anderen Doppelhaushälfte verschwinden.
Tanne spürt die Panik in ihr aufsteigen. Sie ist ins falsche Haus eingebrochen!
Fortsetzung folgt…