Indien: Land der Vielfalt

Ein Reisebericht

Indien ist überbevölkert, dreckig und laut, Frauen werden an jeder Ecke vergewaltigt, es gibt kein Klopapier und das Essen ist zu scharf – so die Vorurteile. Doch wie viel Wahrheit steckt dahinter? 

von Jana Böhme

Unsere Reiseroute

Schon in den 70er-Jahren war Backpacking ein absoluter Trend in Europa. Doch statt tausende Kilometer nach Australien zu fliegen, machten sich die jungen Menschen zu Fuß, auf dem Fahrrad, per Anhalter oder mit dem eigenen Auto auf den Weg Richtung Indien. Auf dem „Hippietrail“ genossen die Abenteurer ihre Freiheit und suchten nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Spiritualität.

Mit der Zeit ist das Traumziel Indien aus dem Fokus der Aufmerksamkeit geraten: Der Hippietrail ist aufgrund von politischen Situationen in den Durchreise-Ländern nicht mehr befahrbar, der Sinn des Lebens kann auch woanders gefunden werden und das Land Indien ist mit einer großen Zahl an negativen Vorurteilen verbunden. Trotzdem, oder gerade deswegen, haben wir, vier junge Studentinnen, uns im Sommer 2018 auf den Weg gemacht, um das Land zunächst im Norden und später im Süden für knapp drei Wochen unter die Lupe zu nehmen.

Ziel 1: Delhi

Delhi ist ein absoluter Kulturschock und bestätigt auf den ersten Blick so ziemlich jedes Vorurteil, das in Europa über Indien vorherrscht. Überall Menschen, Müll, Gerüche, Rikshas. Die Straßenhändler rufen, die Autos hupen, die Rikshafahrer verfolgen uns, die Männer starren, wildfremde Menschen fotografieren uns, die Bettler lassen nicht locker. Doch wir können dem Trubel der Stadt auch entfliehen: die hochmoderne U-Bahn, die beeindruckenden Tempelanlagen, Grünflächen und das kleine Restaurant mit dem zuvorkommenden Kellner und bester indischer Küche neben unserem Hostel wirken wie kleine Oasen in der Großstadtwüste. 

Überfüllte Straßen in Delhi (© Maybrit Brooksnieder) 

Ziel 2: Jaisalmer

Vom Flachdach unseres Hostels überblicken wir die hellen Häuser, die von der Sonne angestrahlt werden. Über der Stadt wacht auf einer Anhöhe die architektonisch wunderschöne Burganlage, dahinter folgt die Wüste. Eine Nacht verbringen wir nach einem Kamelritt im ewigen Sand draußen unter dem unendlichen Sternenhimmel Indiens. 

Links: Ein unendlicher Sternenhimmel über der Wüste. Rechts: Blick über Jaisalmer (© Maybrit Brooksnieder) 

  Ziel 3: Jodhpur

Jodhpur ist bekannt für die unzähligen blau angestrichenen Häuser. Wir waren nicht sehr beeindruckt, denn ansonsten unterscheidet die Stadt sich nicht von anderen indischen Städten: Händler, Bettler, Kühe, Rikshas, Müll. Aber im Vergleich zu Delhi ist das keine große Sache!

Ziel 4: Pushkar

Pushkar kann am besten mit dem Wort „spirituell“ beschrieben werden. Die Stadt ist um einen für die Hindus heiligen See erbaut: im Umkreis von einigen Metern darf nur barfuß gelaufen werden, an jeder Ecke sitzen Gurus und die Menschen vollführen für uns undurchschaubare Zeremonien am und im Wasser. In Pushkar haben wir realisiert dass Kühe in Indien mehr wert sein können, als Menschen. Jede noch so dreiste Kuh auf den Straßen wird ohne Wenn und Aber toleriert. Die „Unberührbaren“, die Menschen der untersten Stufe des indischen Kastensystems, hingegen nicht.

Links: Blumenanbau für Zeremonien in Pushkar. Rechts: Der heilige Lake Pushkar (© Maybrit Brooksnieder).

 Ziel 5: Jaipur

Jaipur steht für Sightseeing und Shopping. Wie üblich sind die Straßen gefüllt mit Menschenmassen, Händlern, Gerüchen, Rikshas und wir werden in einer Tour angequatscht. Trotzdem hinterlässt Jaipur einen bleibenden positiven Eindruck: Mit bunten Stoffen, Gewürzen und mit Obst gefüllten Straßenständen, gastfreundlichen Ladenbesitzern, bester indischer Küche, beeindruckender Architektur und einer wunderschönen Hügellandschaft nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt. 

Links: Ford Jaipur.
Rechts: Kunstvoller Parkeingang (© Maybrit Brooksnieder).

 Ziel 6: Agra

Das Taj Mahal ist das wohl bekannteste Wahrzeichen Indiens. Auch wenn tagtäglich Menschenmassen die Anlage stürmen und der Eintritt überteuert ist, lohnt sich der Ausflug. Es klingt wie in einem kitschigen Reiseführer: Das Grabmal aus weißem Marmor im Morgenlicht strahlt eine unbeschreibliche Schönheit und Würde aus. Ein absolutes Muss, denn dieses Monument lässt sich wirklich nicht in Worte fassen.

Ziel 7: Madurai

Madurai ist unser erstes Ziel in Südindien und der Unterschied zum Norden macht sich bemerkbar. Die Zahl an Straßenständen mit Früchten und Blumen steigt und die der Touristen sinkt. Das macht sich vor allem im Umgang mit den Einheimischen bemerkbar. Beim traditionell indischen Frühstück im Straßenrestaurant zeigen die Kellner uns wahres Interesse und freuen sich, ihre Kultur mit uns teilen zu können. So bekommen wir eine große Auswahl an regionstypischen Gerichten und den unschlagbaren indischen Chai mit viel Zucker und Milch serviert. Madurai ist bekannt für die hinduistische Tempelanlage im Herzen der Stadt. Mit einem gut informierten Touristenführer ist die Anlage in jedem Fall sehenswert, denn die Hintergrundinformationen zum Hinduismus machen die ohnehin beeindruckende Architektur noch interessanter.

Links: Traditionelles indisches Frühstück auf Bananenblättern. Rechts: Kunstvolle Tempelanlage in Madurai (© Maybrit Brooksnieder).

 Ziel 8: Thanjavur

Thanjavur liefert uns zum Ende unserer Reise das Höchstmaß an indischer Authentizität. Wir besuchen das Projekt „Bethania Deaconess Home“, denn eine unserer Mitreisenden hat hier einen sechsmonatigen Freiwilligendienst nach dem Abitur absolviert. Das Projekt setzt sich aus einem Frauenheim für körperlich und geistig beeinträchtigte Frauen und einem Waisenhaus zusammen. Die Umstände in Thanjavur entsprechen denen in nordindischen Städten, denn die Straßen sind gefüllt mit Händlern, Bettlern, Tieren, Gerüchen und hupenden Fahrzeugen. Der Unterschied: wir sind wirklich die einzigen europäischen Menschen weit und breit und an westliches Essen ist im Traum nicht zu denken. Wir verbringen viel Zeit im Frauenheim und Waisenhaus, denn nach mehreren Wochen Indien ist uns der Trubel auf den Straßen definitiv zu viel. Durch die Zeit mit den Einheimischen bekommen wir noch einige interessante Einblicke in diese uns so fremde Kultur und gesellschaftliche Probleme wie die hierarchische Ordnung unter den Menschen. Thanjavur ist kein Urlaubsort, aber hier haben wir das wahre Indien nochmal kurz erleben können.

Kinder im Waisenhaus des Bethania Deaconess Home, Thanjavur, Tamil Nadu (© Maybrit Brooksnieder).

Nach knapp drei Wochen Reise mit Zug, Auto und Flugzeug durch Indien sind wir froh, endlich in die Heimat zurück zu kehren. Ich habe das ständige Unterwegs-Sein, das Hupen der Fahrzeuge, den Grad zwischen Vertrauen und Misstrauen zu Einheimischen und das Curry zum Frühstück schlicht und einfach satt. Eine Indienreise ist definitiv keine Erholung, denn die täglich neuen Eindrücke sind zu viel.

Die Wahrheit hinter den Vorurteilen

Zugegebenermaßen hat sich so manches Vorurteil leider bestätigt: Indische Großstädte sind definitiv überbevölkert, laut und dreckig und als Frau habe ich mich in der männerdominierten Gesellschaft auf den Straßen nicht immer wohl gefühlt. Auch das Klopapier-Defizit ist kein Gerücht. Das Essen in der traditionellen Küche ist tatsächlich sehr scharf. Aber Indien darf nicht auf diese Tatsachen reduziert werden, da es so viel mehr zu bieten hat. Das Land und die Menschen sind hochinteressant und kontrovers: Tradition trifft auf Moderne, Arm auf Reich, dreckige Stadt auf wunderschöne Natur. Die Vielzahl an Sprachen, Religionen und Lebensweisen ist überwältigend. Indien zeigt, dass vollkommen widersprüchliche und unterschiedliche Dinge zusammen irgendwie funktionieren können. Es zeigt, dass bunte Farben und Stoffe für gute Laune sorgen. Es zeigt, was für eine große Rolle Glauben und Spiritualität im Leben spielen kann. Es zeigt, dass sich das Leben auf der Straße abspielen kann. Es zeigt, dass scharfes Essen super lecker sein kann! Für uns wird es bei noch so viel Zeit in Indien nicht möglich sein, das Land und die Menschen zu durchschauen. Doch Indien regt zum Nachdenken über die eigene Lebensweise, den Umgang mit anderen Menschen und die Gerechtigkeit auf der Welt an.

Ich werde definitiv eines Tages nach Indien zurückkehren, dabei aber deutlich mehr Zeit und Spontanität mitbringen. Jedem*r, der*die bereit ist, einen Kulturschock zu erleiden, aus der eigenen Komfortzone auszutreten, und sich mit einer Menge neuer Eindrücke und Gedanken auseinanderzusetzen, kann ich eine Indienreise wärmstens empfehlen!

Das könnte dich auch interessieren

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *