Kino zum Nachdenken: Die ethnografischen Filmtage 2016 an der Uni Bremen
In der vergangenen Woche öffnete der Fachbereich 9 wieder die Pforten der „Keksdose“ und lud zu den alljährlichen ethnografischen Filmtagen ein. Die Veranstaltung feiert ihren vierten Geburtstag und ist auf dem Weg, sich als traditionelles Kulturevent zu etablieren. Das ScheinWerfer-Team ließ sich nicht zweimal bitten und begab sich einmal mehr unter die neugierigen Zuschauer.
Von Florian Fabozzi
Fremde Kulturen kennenlernen und erleben sowie der Austausch mit den Menschen vor Ort sind elementare Bestandteile der täglichen Arbeit eines Ethnografen. Er setzt konkret den Schwerpunkt auf das Zusammenleben und die Lebensweise einer kulturellen Gemeinschaft. Der ethnografische Film fristet jedoch seit eh und je ein Schattendasein im Vergleich zu kommerziellen und hochgepriesenen Spielfilmen, selbst wenn diese die gleichen Themen aufgreifen. Die ethnografischen Filmtage an der Universität Bremen bieten dem Nischengenre eine Plattform, in dem sie neuere Werke dieser Art vorstellen und das Genre somit ins Bewusstsein der Zuschauenden rufen.
Die Organisatoren der dreitägigen Veranstaltung, Lehrende und Studierende des Fachbereichs der Kulturwissenschaft, haben sich bei der Filmauswahl keine zu engen Grenzen gesetzt. Neben vollends ethnografisch motivierten Filmen sind einige Filme auch dokumentarisch aufgebaut oder enthalten experimentelle Einflüsse. Darüber hinaus gibt es keinen gemeinsamen thematischen Nenner, die Filmauswahl ist äußerst heterogen und überzeugt durch Vielfalt. Letztlich gleichen sich die Filme in ihrer Wirkung: Sie alle regen zum Reflektieren und Nachdenken an.
Ein Märchen und sein Ursprung
Den Auftakt am frühen Dienstagabend macht der estnische Dokumentarfilm „Journey to the Maggot Feeder“ der Bezug auf den Animationsfilm „The Maggot Feeder“ nimmt. „The Maggot Feeder“ (Der Madenfütterer) basiert auf einem bizarren Märchen aus Tschukotka, einer Region im nordöstlichsten Russland. Das Märchen bedient sich Motiven, die aus westlicher Sicht rätselhaft erscheinen: Seien es menschenfressende Maden, eine Spinne als Lebensretter oder ein mit Dämonen gefüllter Beutel. Priit Tender, der das Märchen filmisch umgesetzt hatte, begibt sich in „Journey to the Maggot Feeder“ auf Spurensuche, um Hintergründe zu dieser Geschichte zu erfahren und sie richtig deuten zu können. Seine Reise führt ihn unter anderem zu einer Psychotherapeutin, einer Autorin, in russische Museen und schließlich nach Tschukotka. Alle Befragten deuten das Märchen auf verschiedene Weise, doch niemand, auch kein Einwohner Tschukotkas, ist in der Lage die Moral des Märchens zu entschlüsseln. Zumindest lassen sich einzelne Elemente durch Kenntnisse der tschuktschischen Kultur erklären. Zudem offenbart sich die Erkenntnis, dass Märchen in dem Kulturkreis von Natur aus düsterer sind als hierzulande. Sie sollen junge Leute abschrecken und auf die harte Realität des Lebens vorbereiten. Wenngleich man gerne noch etwas mehr über die Kultur Tschukotkas erfahren hätte – eine unterhaltsame Reise bietet der Film allemal.
Anthropologische Reise um den Globus
Der zweite Film des Abends trägt den Titel „The Anthropologist“. Präsentiert werden die Projekte der Anthropologin Susan Crate, die über einen Zeitraum von fünf Jahren im Zusammenabeit mit ihrer Tochter Katie entstanden. Es wird größtenteils aus Katies Perspektive berichtet, die einen Einblick darin gewährt, wie man als Jugendliche ein Leben auf ständiger Durchreise wahrnimmt. Die Kamera begleitet das Mutter-Tochter-Duo bei ihrem Engagement in Sibirien. Durch einen Temperaturanstieg des Permafrostbodens leiden die Höfe unter zu großer Feuchtigkeit und aufsteigenden Wassermengen. Ein weiterer Schwerpunkt ist Crates Aufenthalt im Inselstaat Kiribati, der aufgrund des steigenden Meeresspiegel unterzugehen droht. Zu guter Letzt führt es sie nach Peru, wo das fortschreitende Schmelzen der Gletscher den Anbau von Nahrungsmitteln erschwert. Überall fungiert Susan Crate in erster Linie als Aufklärerin für die vom Klimawandel betroffenen und ratlosen Bewohner. Gleichzeitig trifft sie auch auf Personen, die den Klimawandel leugnen und bei denen argumentative Überzeugungsarbeit gefragt ist. In einem Nebenplot erzählt Mary Catherine Bateson von ihrer berühmten Mutter Margaret Mead, die bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts wichtige Pionierarbeit als Ethnologin leistete und sich dafür engagierte, dass der Klimawandel öffentlich und politisch die Aufmerksamkeit erlangt, die heute selbstverständlich ist.
Aktivismus in Kirgisistan
Der zweite Tag beginnt mit einem sechsminütigen Kurzfilm zweier Studentinnen der Kulturwissenschaften. Der Film handelt vom sogenannten „Upcycling“, also der Umwandlung von abgelegten in neue Produkte. Die beiden Studentinnen besuchen dafür eine Schneiderin, die vor laufender Kamera demonstriert, wie sie ein Hemd mit einigen Handgriffen in eine Latzhose umfunktioniert.
„Flowers of Freedom“ lautet der Name des zweiten Filmes, der in Kirgisistan gedreht wurde. Durch den Betrieb einer Goldmine ist das Wasser in einem landwirtschaftlich geprägten Dorf durch Cyanide vergiftet. Dies kostete 1998 einigen Dorfbewohnern das Leben und so bildete sich daraufhin eine Gruppe weiblicher Aktivistinnen, die gegen die Arbeiten an der Goldmine protestiert und die Firma darüber hinaus wegen der Forderung auf Schadensersatz vor Gericht bringen möchte. Der Widerstand ist allerdings enorm: Demonstrationen werden gewaltsam niedergeschlagen, die Regierung erweist sich als korrupt und bestechlich. Hinzu kommt, dass die Gewinnung von Gold als wirtschaftlicher Anker für Kirgistan unverzichtbar scheint und sich die Kompromissbereitschaft seitens der Regierung daher in Grenzen hält. Trotz persönlicher Bedrohungen wagt der Kopf der Gruppe, Erkingül Imankozhoeva, den Schritt in die Politik. Tatsächlich schafft sie den Sprung ins Parlament der sozialdemokratischen Partei. Die deutsche Regisseurin Mirjam Leuze, die den Film mit einfachsten Mitteln produziert hat, verfolgt das politische Handeln Erkingüls und gleichzeitig das bescheidene Leben in den Dörfern Kirgistans, das von Job- und Perspektivmangel und sozialen Problemen gekennzeichnet ist.
Eine portugiesische Familiengeschichte
Am dritten und letzten Tag geht es ins Kommunalkino „City 46“, wo die ethnografischen Filmtage traditionell ihren krönenden Abschluss erleben. In dem dort präsentierten Film „The Wolf’s Liar“ taucht Catarina Mourão in die Vergangenheit ihrer Familie ein. Das Augenmerk liegt auf ihrem Großvater Tomaz de Figueiredo, einst ein bekannter Dichter, den sie allerdings nie persönlich kennenlernte. Neben der Befragung ihrer Angehörigen hofft sie anhand alter Videos, Briefe und Erinnerungsstücke ein klareres Bild vom Leben ihres Großvaters und den Zusammenhängen innerhalb ihrer Familie zu erhalten. Ihre Reise in die Vergangenheit hat dabei auch einen politischen Beigeschmack: Es ist eine Reise in die portugiesische Diktatur unter Salazar, eine Gesellschaft, in der Konformität oberste Priorität besaß und Individualität nicht gestattet war. Mourão war persönlich anwesend, sodass die Zuschauer im Anschluss an den Film ihre Fragen direkt an die Macherin richten konnten – eine Gelegenheit, die man nicht alle Tage bekommt.
Stichwort „Zuschauer“. Diesbezüglich ist noch etwas Luft nach oben. An allen drei Tagen schwankte die Zuschauerzahl zwischen 40-50 und viele Sitze blieben leer. Ein Grund zur Besorgnis sollte dies allerdings nicht sein, denn die Entwicklung des ethnografischen Films in Bremen und der Universität ist durchaus positiv. Erstmals hat sich dieses Jahr das „Filmbüro Bremen“ an der Organisation der Filmtage beteiligt und mit der Universität kooperiert – ein erster kleiner Coup. Außerdem hat der Fachbereich der Kulturwissenschaft das Angebot an Exkursionen ausgebaut und es wird vermehrt für ethnografische Events aller Art geworben. Es besteht Hoffnung, dass sich schon bald ein breiteres Publikum für ethnografische Filme begeistern lässt.
Titelbild: Ethnografische Filmtage