Unvergessene Weihnachten: Lottchen
Von Angelika Tzschoppe
Advent und Weihnachten waren in unserer Familie eine besonders schöne Zeit. Trotz der vielen Arbeit, die Mutter als Pfarrfrau mit vier Kindern hatte, las sie mir und meinem Bruder Gerhard jeden Tag eine weihnachtliche Geschichte vor. Dazu brannten natürlich die Kerzen am Adventskranz. Sonntags wurde Klavier gespielt, gesungen und geflötet.
Als ich sieben Jahre alt war, wünschte ich mir zu Weihnachten eine Babypuppe mit Schlafaugen und Mama-Stimme.
Zwei Tage vor dem Heiligen Abend fühlte ich mich plötzlich matt und elend.
„Hoffentlich wirst du nicht krank“, seufzte meine Mutti. „Ich habe doch heute noch so viel zu tun.“
Die Vorbereitungen für den Heiligen Abend waren im vollen Gange. Die große Tanne stand bereits im Wohnzimmer und wartete darauf, geschmückt zu werden. Darunter sollte noch die Krippenlandschaft aufgebaut werden. Im Eßzimmer, das nur zu besonderen Anlässen geheizt wurde, wärmte der grüne Kachelofen. Mein Bruder Siegfried hatte schon seit Tagen dort seine Märklin-Eisenbahn aufgebaut und werkelte und bastelte in jeder freien Minute daran. Am Abend und in der Nacht wollte unsere Mutter die Puppenküche, Puppenstuben und Kaufläden herrichten. Meine große Schwester Gisela durfte ihr eine Zeitlang dabei helfen. Mit dem Aufstellen allein war es nicht getan, mußten doch die kleinen Schubläden mit verschiedensten Naschereien gefüllt und die Puppenstuben mit liebevollen Überraschungen ergänzt werden. Große, alte Schachteln, die alle Schätze enthielten, stapelten sich bereits im Weihnachtszimmer. Darunter war mir eine lange aufgefallen, die ganz neu aussah. Könnte darin eine Babypuppe sein?
Meine Mutter liebte diese Vorbereitungen. Später las ich in ihrem Tagebuch: „Gewerkelt bis nachts um zwei Uhr, aber glücklich und zufrieden.“
Ein krankes Kind jedoch paßte nicht unbedingt in ihren Plan. Damit sie besser nach mir sehen konnte, richtete sie mein Nachtlager auf dem Sofa im Wohnzimmer her und ließ die Tür einen Spalt offen. So konnte ich mich jederzeit bemerkbar machen. Ich hörte die leisen Stimmen von Mutti und Gisela und ab und zu ein Klappern und Schieben. In Gedanken stellte ich mir das Weihnachtszimmer vor und schlief darüber ein. Ich wachte erst wieder auf, als mein Vater, wahrscheinlich gegen Mitternacht, aus seinem Studierzimmer vom Erdgeschoß heraufkam. Er war gut gelaunt.
„Paulinchen, ich bin fertig mit meiner Predigt. Jetzt muß ich mal bei dir nach dem Rechten sehen. Was macht unsere Patientin?“, fragte er meine Mutter.
„Sie schläft zum Glück. So schlimm kann es nicht sein“, bekam er zur Antwort.
Dann hörte ich Papa auf eine Schachtel klopfen: „Ist da ein Geschenk für mich drin? Da schau ich doch gleich einmal nach.“
„Ich warne dich!“, zischte Mutti. „Aber du hast Pech, da ist die Babypuppe drin.“ Ich lauschte atemlos.
„Ach, wie schön“ – das war wieder Vaters Stimme –, „da kann ich gleich mal hören, ob sie auch Mama rufen kann.“
Mutti wehrte empört ab: „Nein, nicht doch, Alfred! Die Kleine wacht womöglich auf.“
Aber ehe sie es verhindern konnte, wurde die Tür einen weiteren Spalt geöffnet.
„Alfred, bleib hier!“, versuchte Mutti ihm Einhalt zu gebieten, aber es war zu spät. Ehe sie es verhindern konnte, schrie es im Dämmerlicht über mir: „Mama, Mama, Mama!“
Ich blinzelte hinter fast verschlossenen Lidern hervor und sah die Umrisse einer wunderschönen Babypuppe, die Papa vergnügt vor- und zurückschwenkte. Am liebsten hätte ich meine Arme nach ihr ausgestreckt, aber ich war so schlau, mir nichts anmerken zu lassen. Voller Vorfreude schlief ich dem nächsten Tag entgegen und war am Morgen wieder ganz gesund.
Am Heiligen Abend saß mein neues Puppenkind im rosa Taufkleid auf dem Gabentisch und war noch viel schöner als ich es vor zwei Tagen erahnen konnte. Ob ich denn schon einen Namen für die Puppe hätte, wollte Papa wissen.
Natürlich hatte ich den: Lottchen sollte sie heißen.
Feierlich überreichte mir Papa ein Stück Papier: „Das ist ein Taufschein. Auf einem echten Taufschein sind keine Abkürzungen erlaubt. Ich schreibe Charlotte hinein aber für dich heißt sie Lottchen. Einverstanden?“
Das war ich, hatte doch jedes Kind in unserer Familie etliche Spitznamen und wurde nur selten so gerufen, wie es in seiner offiziellen Geburts- und Taufurkunde stand. Ich war stolz, fühlte mich wichtig und ernst genommen. Welches Kind hat schon eine Puppe mit einem echten Taufschein?
Meine „Mama-Schreierin“ wurde meine Lieblingspuppe.
Jahre später besuchte mich meine Schwester Gisela mit ihrer kleinen Tochter Isabell. Diese zog Lottchen eine Spielhose an, tanzte mit der Puppe durch den Garten und sang: „Arrivederci Hans, das war der letzte Tanz …“ So wurde von einer Minute auf die andere aus meinem Lottchen ein Hans. Bei Puppen sind Geschlechtsänderungen halt relativ einfach durchzuführen. Seitdem lebt Lottchen-Hans, vom Alter etwas mitgenommen, bei meiner Schwester in der Pfalz.
Unvergessene Weihnachten. Band 12
29 besinnliche und heitere Zeitzeugen-Erinnerungen aus den Jahren 1925 bis 2009. 192 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister. Zeitgut Verlag, Berlin.