Unvergessene Weihnachten: Mein Räuchermann

Von Frank Nicolai

Es war eines dieser Weihnachten kurz nach dem Krieg. Wir Kinder wußten schon, daß wohl wieder nur Äpfel, selbstgebackene Kekse und ein paar handgestrickte Socken unter dem Tannenbaum liegen würden, war es doch in der schweren Zeit Mühe genug, überhaupt einigermaßen über die Runden zu kommen. Nicht zu denken an Spielzeug als Geschenk zu Weihnachten!

Um so überraschter war ich, als ich neben den obligatorischen Geschenken noch ein Päckchen fand. Es sollte ganz allein für mich sein – so stand es jedenfalls darauf geschrieben. Nicht allzu groß, recht ungelenk in graues Packpapier eingeschlagen und mit einem Papierband gebunden, weckte es meine ganze Neugier. Ich war unheimlich aufgeregt. Was würde sich wohl darin verstecken?

Vorsichtig knotete ich das Band auf. Dabei konnte ich es kaum erwarten, endlich das Papier zurückschlagen und das Geheimnis lüften zu können. Und was entdeckte ich?

Einen Räuchermann! Handgeschnitzt saß da ein Jäger auf einem Baumstumpf, die Flinte über der Schulter, auf dem Rücken einen Rucksack, aus dem ein Hase hing. Im Mund natürlich eine Pfeife, damit er auch richtig räuchern konnte. Glücklich bewunderte ich ihn von allen Seiten, nicht das kleinste Detail wollte ich übersehen. Es war tatsächlich ein Prachtkerl, einfach wunderschön!

Nachdem ich ihn lange und ausgiebig in Augenschein genommen hatte, stellte ich ihn endlich zu den anderen Geschenken unter den Christbaum.

Bald gab es Abendbrot, später saß die ganze Familie gemütlich im Kerzenschein beisammen. Mit Plaudern verging die Zeit, begleitet von einem Geräusch, einem Knirschen und Knacken, auf das niemand sonderlich achtete. Keiner dachte sich etwas dabei, denn unser Hund Lux stibitzte öfter ein Holzscheit, legte sich unter das Sofa und zerkaute dieses dann ganz genüßlich. Plötzlich gab es mir einen Stich – mein Räuchermann!

Ich sprang vom Stuhl auf, warf mich bäuchlings auf den Fußboden unserer guten Stube, schrie entsetzt: „Lux!“ Aber es war zu spät. Unser Hund hatte meinen wunderschönen Räuchermann bereits zu Spänen verarbeitet. Ich war sehr traurig. Doch da war nichts mehr zu machen. Welch riesengroße Enttäuschung!

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Unvergessene Weihnachten. Bild: Zeitgut Verlag/Privatbesitz des Verfassers

Nur wer in kargen Zeiten unverhofft ein schönes Geschenk erhält und es dann durch ein Mißgeschick gleich wieder verliert, kann empfinden, wie mir zumute war. Der Verlust war ja nicht zu ersetzen damals, als alles Schöne Seltenheitswert besaß. Und so wurde dieses Weihnachtsfest zunächst das glücklichste und später traurigste meiner Kinderzeit.

Unvergessene Weihnachten. Band 12

29 besinnliche und heitere Zeitzeugen-Erinnerungen aus den Jahren 1925 bis 2009. 192 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister. Zeitgut Verlag, Berlin.

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