Das russische Staatsdoping
Wenn der Sport in den Hintergrund tritt
Doping ist allgegenwärtig. Immer wieder werden Täter entlarvt, die damit die Leistungen aller Sportler in den Hintergrund rücken lassen. In den vergangenen Jahren ist einer der größten Dopingskandale der Geschichte ans Licht gekommen: Das russische Staatsdoping. Wer dort wie und wann beteiligt war deckt der McLaren-Report auf und setzt damit eine große Welle in den Gang.
Von Chantal Ranke
Es ist der 23. Februar 2014. Die Abschlussfeier der olympischen Winterspiele von Sotschi lockt noch einmal rund 40.000 Zuschauer in das Fitsch-Olympiastadion, wo ein gebührender Abschied gefeiert wird. Ein Highlight der Abschlussfeier ist die Siegerehrungen der letzten Wettbewerbe. Das Publikum wartet gespannt auf die drei Besten des 50 Kilometer Langlaufs der Herren. Die russische Fahne ist die Einzige, die über dem Podium weht. Daran ist unschwer zu erkennen, dass diese Disziplin, wie die gesamten Spiele, eine Machtdemonstration des russischen Teams waren. Nacheinander ehrt der Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach, die Sieger Zunächst Ilia Chernousov, der sich die Bronze-Medaille erkämpfte, dann der Silbermedaillengewinner Maxim Vylegzhanin. Unmittelbar danach ist der Moment gekommen, der Moment auf den ein jeder Sportler sein Leben lang hin arbeitet. Der Olympiasieger 2014 Alexander Legkow wird aufgerufen und nimmt seine Medaille in Empfang. Freudestrahlend ballt er seine Fäuste und reißt sie in die Luft, springt hoch und hört nicht mehr auf zu hüpfen. Erst als die Nationalhymne seines Landes ertönt, bleibt er ruhig stehen, die Mütze in der Hand. Zu Tränen gerührt singt er, sowie der Großteil des Stadions, die Hymne und schafft einen großen, emotionalen Moment.
Vier Jahre später wendete sich das Blatt für die Russen. Das IOC sperrt Alexander Legkow im November 2017 lebenslänglich für alle Wettbewerbe und Funktionen im Zuge der olympischen Winterspiele. Durch den Nachweis anaboler Steroide konnte er des Dopings überführt werden. Diese zeigen eine vielfache Wirkung, vor allem aber steigern sie den Aufbau der fettarmen Skelettmuskulatur und die körperliche Leistungsfähigkeit. Durch eine zyklische Anwendung kommt es zu einer Verbesserung des Leistungsniveaus. Es werden also genau die Bedingungen erfüllt, die einem Sportler recht sind, wenn das Highlight der Karriere immer näher rückt.
ARD bringt Stein ins Rollen
Der Reiz, seine Leistungsfähigkeit stetig zu erweitern, ist groß und so bleibt Legkow kein Einzelfall. Die hervorragenden Erfolge des russischen Teams lassen die Gesellschaft stutzig werden, sodass der Verdacht entsteht, es handle sich um flächendeckendes Doping. Das amerikanische Nachrichtenmagazin 60 Minutes berichtete im Mai 2014 erstmals davon, dass es sich um Staatsdoping handle. Kurz darauf veröffentlichte auch die New York Times einen Artikel. Den endgültigen Auslöser lieferte die ARD im Dezember 2014 mit der Ausstrahlung der Dokumentation „Geheimsache-Doping – Wie Russland seine Sieger macht“. Erstmals wird konkret auf ein staatlich gestütztes Dopingsystem hingewiesen und ein Mann rückt durch seine Tätigkeiten als Whistleblower ins Visier: Grigori Rodschenkow.
Der ehemalige Leiter des Anti-Doping-Labors in Moskau und Sotschi führte Dopingkontrollen von tausenden russischen und internationalen Olympiateilnehmern durch und lieferte Informationen aus erster Hand. Auf Grund dieser Informationen beauftragte die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) die Ermittlung in diesem Fall und die anschließende Erstellung eines Berichts unter der Leitung des IOC-Funktionärs Denis Oswald und des kanadischen Anwalts Richard McLaren. Ziel der Ermittlungen des sogenannten McLaren-Reports war vor allem herauszufinden, ob es sich bei den Spielen in Sotschi tatsächlich um eine staatlich kontrollierte Manipulation der Dopingkontrollen handelte.
Die Rolle des Juri Nagornych
Die Ermittlungen führten die Kommission zurück bis in das Jahr 2010 – das Jahr der olympischen Spiele in Vancouver. Der russische Verband hatte mit einer herben Enttäuschung zu kämpfen. Insgesamt wurden nur 3 Gold-, 5 Silber- und 7 Bronzemedaillen von russischen Sportlern gewonnen und damit stand die Nation im internationalen Ranking weit abgeschlagen auf Platz 11. Zum Vergleich: Lediglich vier Jahre später ist das Klassement umgekrempelt. Russland gewinnt die Nationenwertung deutlich mit 33 Medaillen (13 x Gold, 11 x Silber, 9 x Bronze).
Zu diesem Zeitpunkt ist den Russen bereits bewusst, dass die kommenden Spiele in ihrem Land, in Sotschi, stattfinden werden und sich solch ein Ergebnis nicht wiederholen darf. Unmittelbar nach den Spielen in Kanada wurde die staatlich gelenkte ‘Methode des Verschwindenlassens positiver Proben’ ins Leben gerufen. Zeitgleich wird Juri Nagornych zum stellvertretenden Sportminister berufen. Wie sich herausstellte, war Nagornych für den reibungslosen Ablauf der Manipulation zuständig. Er war der Erste, der darüber informiert wurde, als 2011 positive Befunde im Moskauer Labor Dr. Rodschenkows entdeckt wurden und hatte die Entscheidungsgewalt, welche Proben manipuliert werden sollen und welche nicht. Nagornych alleine entschied demnach über das Schicksal der russischen Athleten und missachtete die internationalen Regelungen der WADA komplett.
Unter normalen Umständen müssen die Ergebnisse des Dopingtests eines jeden Sportlers im Anti-Doping-Management-System (ADAMS) vermerkt werden. Wenn nun aber der Sportminister Bescheid über einen positiven Befund eines Sportlers bekam, war es an ihm „SCHÜTZEN“ oder „QUARANTÄNE“ auszusprechen. Sprach er den ersten Code aus, war der Befund des Sportlers ein negativer und es wurde ihm ermöglicht, ohne Probleme während der laufenden Wettkämpfe zu dopen. Diese Art der Manipulation ist im Vergleich zu dem, was noch kommt relativ simpel.
Der “Duchess-Cocktail”
Um den großen Plan eines mächtigen Teams zu verfolgen, griffen die Beteiligten zu besonderen Maßnahmen. 2012 veröffentlichte das Labor Dr. Rodschenkows einen Bericht über die Entdeckung von Peptiden und Langzeit-Steroidmetaboliten, der vor allem auf Seiten der WADA große Anerkennung fand. Hinter verschlossener Tür arbeitete das Büro allerdings an einem umfassenden System der Manipulation, wie es bisher noch niemandem bekannt war. Er entwickelte einen Cocktail mit einem sehr kurzen Nachweisfenster, der sogenannte Duchess-Cocktail, um Athleten gezielt beim Doping und der dazugehörigen Vertuschung zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt gab es allerdings noch einen hohen Anteil des Dopings „an der Basis“, sodass Trainer und Ärzte die Dopingmittel eigenständig in einer anderen Form verabreichten. Somit war eine einheitliche Kontrolle und Manipulation der Sportler unmöglich. Was bei den Sommerspielen in London 2012 deswegen nicht funktionierte, sollte in Sotschi besser funktionieren. Der klare Schluss daraus: Das individuelle Doping sollte aufgelöst und den Sportlern in Form des „Duchess-Cocktails“ verabreicht werden.
Um die Einnahme dieses Cocktails zu vertuschen, probten die Athleten und Labore bereits in London Auswaschtests der Reagenzgläser. Zudem kann auch die Ergebnisänderung in ADAMS nur weiter erfolgreich sein, wenn alle Proben im Labor in Moskau bleiben und abschließend dort vernichtet werden.
Urinaustausch als Strategie
Für das weitaus kompliziertere und umfassendere Geschehen, das in Sotschi stattfinden sollte, wurde der russische Geheimdienst (FSB) hinzugezogen. Dieser entwickelte unter der Leitung Irina Rodionovas ein System zum Austausch des Urins, der bereits im Reagenzglas enthalten war. Das Interessante an Irina Rodionova ist, dass sie zu diesem Zeitpunkt stellvertretende Leiterin des Trainingszentrums zur Vorbereitung des russischen Teams war und zudem dem russischen olympischen Komitee als Leiterin der Abteilung für Monitoring und Management medizinischer Anti-Dopingprogramme angehörte.
Das ultimative System, das die Russen in Sotschi anwendeten, war somit an viele Komponenten gekoppelt und lief Gefahr, jederzeit aufzufliegen. Wichtig war, dass die Athleten Rodionova zunächst saubere Proben zur Verfügung stellten, die sie in einem Tiefkühlschrank einlagerte und anschließend vom FSB in die Nähe des Labors in Sotschi bringen ließ. Dort reichten weitere Mitarbeiter die Flaschen mit den positiven B-Proben aus dem Labor im Sicherheitsbereich durch ein „Mauseloch“ in einen benachbarten Arbeitsraum, wo sie ein Geheimdienstoffizier empfing. Währenddessen tauten die sauberen Proben aus dem FSB-Gebäude auf. Hier kommt erneut Dr. Rodschenkow zum Tragen, der dafür verantwortlich war, dass die eingeschleusten Proben dem Wert, der in Sotschi genommen Proben gleichen. Weitergehend wurde die B-Probe geöffnet, der belastete Urin weggeschüttet und durch den sauberen Urin ersetzt. A- und B-Proben wurden anschließend verstöpselt, zugeschraubt und durch das „Mauseloch“ zurück geschoben, sodass die Laboranten am Folgetag die sauberen Proben kontrollierten. Diese speziell für Sotschi entwickelte Methode blieb aber kein Einzelfall. Auch nach den Spielen wird die Methode zu einer regelmäßig Praxis, die fortan im Labor in Moskau durchgeführt wird.
Das Ergebnis des McLaren-Reports
Die tatsächliche Wende tritt allerdings nach dem Bericht der ARD 2014 ein. Die WADA wird auf das Labor aufmerksam und kündigt seinen Besuch und die damit einhergehende Kontrolle der Proben an. Bei Nicht-Agieren Rodschenkows, würden sie sich selbst ein Grab schaufeln, da man Massen von Beweismitteln gefunden hätte. Proben von 37 Sportlern wären zum Problem geworden, wenn die Proben von einem anderen Labor analysiert würden. In einer weiteren Nacht-und-Nebel-Aktion wurden daher Verschlusskappen sämtlicher Probenflaschen entfernt und die Athleten bekamen in ADAMS einen negativen Vermerk. Nach Auftrag Nagornychs waren somit die „Zauberer“ des FSB am Werk und vernichteten Beweise.
Diese und noch viele weitere Beweise die Richard McLaren und sein Team in den letzten drei Jahren gewissenhaft prüften und auswerteten führten sie zu folgendem Ergebnis: „Es gab eine institutionelle Verschwörung quer durch die beteiligten Sommer- und Wintersportarten mit russischen Funktionären innerhalb des Sportministeriums und seiner Infrastruktur wie etwa RUSADA, CSP und dem Moskauer Labor zusammen mit dem FSB, deren Ziel die Manipulation der Dopingkontrollen war. Die Sommer- und Wintersportathleten handelten nicht für sich allein; sie waren in eine organisierte Infrastruktur eingebunden, wie im ersten Bericht ausführlich dargelegt.“
Radikale Sperren und Sanktionen
Das Ausmaß dieser institutionellen Manipulation und Verdeckung ist enorm. Über 1.000 Athleten gelten als Beteiligte, die vom Verfahren profitierten, zehn Medaillengewinnern von London erkannte man die Medaille ab, bei sechs paralympischen Teilnehmern ( insgesamt 21 Medaillen) wurden alle Proben vertauscht und tausende Proben weisen Kratzer und Schrammen und damit Zeichen der Manipulation auf.
Die Konsequenzen, die das IOC aus den Ermittlungen zieht, könnten schlimmer nicht sein. Im Dezember 2017 wird das russische Team von den olympischen Winterspielen in PyeongChang 2018 ausgeschlossen. Man wird keine russische Hymne erklingen hören, keine Mannschaft kämpfen und keine Fahne wehen sehen.
IOC-Präsident Thomas Bach erklärt diese Entscheidung mit einem „beispiellosen Angriff auf die Integrität der olympischen Bewegung und des Sports.“ Der stellvertretende Sportminister Juri Nagornych, Irina Rodionova und die Anti-Doping-Beraterin, Natalia Schelanow sind unmittelbar suspendiert. Sportminister und Koordinator der WM, Witali Mutko, tritt von seinen Ämtern zurück. Sportler und Funktionäre werden lebenslänglich von olympischen Wettbewerben ausgeschlossen, wie beispielsweise der legendäre Bobfaher Alexander Subkow und 19 weitere russische Athleten aus fünf Sportarten, die bereits ihre olympischen Medaillen dem IOC aushändigen mussten. Zusätzlich müssen 15 Millionen Dollar im Kampf gegen Doping eingesetzt werden.
Russland reagiert auf diese Maßnahmen mit Konfrontation. Präsident Putin behauptet, dass es zwar einige Fehler im Anit-Doping-Kampf gegeben hätte, aber es kein staatlich gestütztes Doping-System gebe. Insgesamt seien die Vorwürfe von McLaren und Rodschenkow lediglich westliche Propaganda und eine „Erniedrigung des Landes“. So hat sich das Land dazu entschieden keinen einzigen Wettbewerb der Spiele im Staatsfernsehen zu zeigen.
CAS begnadigt Athleten
Am 1. Februar hob die CAS (der internatioale Sportgerichtshof) die lebenslangen Sperren für 28 russiche Sportler wieder auf und ihre Medaillen von den letzten olympischen Spielen wurden wieder für gültig erklärt. Es heißt, die Beweislage sei nicht eindeutig genug. Eine Niederlage für den IOC, die einen Einspruch vor dem Schweizer Bundesricht erwägen. Die zuvor gesperrten russischen Athleten und Athletinnen, allen voran Langlauf-König Alexander Legkow, können sich nuzn sogar noch ihr Startrecht für die olympischen Spiele in Pyeong Chang einklagen. Ein offizielles russisches Team wird es in Pyeong Chang indes nicht geben. Die teilnahmeberechtigten russischen Sportler treten nicht unter der eigenen Flagge an, sondern als “Olympic Athletes from Russia”.
Es bleibt nun abzuwarten, inwieweit der Gedanke an mögliches Doping die feierliche Stimmung in den kommenden Spielen trüben wird. Doping ist ein Thema, welches uns schon lange begleitet, immer wieder schockiert und zweifeln lässt. Das, was den Sport ausmacht und die herausragenden Leistungen einiger Sportler, rücken dabei zunehmend in den Hintergrund. Auch wenn es im ersten Moment keine Anzeichen gibt, können Täter auch Jahre später noch entlarvt werden, wie beispielsweise am vielfachen Tour de France-Sieger Lance Armstrong zu sehen ist. Selbst nach sechs vergangenen Jahren konnten noch nicht alle Proben der Spiele in London ausgewertet werden, sodass immer noch mit Suspendierungen oder Aberkennungen von Medaillen zu rechnen ist.
Trotz dieser Aspekte, die sich negativ auf die Stimmung der Spiele auswirken, sollte der olympische Spirit wieder in den Vordergrund gerückt werden und alle sollten gemäß des Mottos „New Horizons“ ihre Horizonte hinsichtlich fairer Wettkämpfe, toller Leistungen und freudigen Überraschungen erweitern.
Titelbild: Jude Freeman, CC 2.0