Das Nest verlassen und Fliegen lernen

Teil 6: Alk auf´m Kühli

Seit Monaten suche ich schon nach einem neuen Zuhause. Doch die Traumvorstellung von einer zentralen Altbauwohnung mit meterhohen, stuckverzierten Decken, Fenstern, die nach Süden gerichtet sind, mit mindestens 15 Quadratmetern Echtholzdielen und einer kleinen gemischten Gruppe von kreativen Menschen Anfang 20 bleibt anscheinend in den vier Wänden meines utopischen Gedächtnis. Fakt ist – Altbauwohnungen sind rar und begehrt. Jede Pushnachricht von „WG-Gesucht“ wird mit Gier geöffnet und die nächstbesten Gelegenheiten ergriffen, um hoffentlich einen „Casting-Platz“ zu ergattern – ob das dann auch etwas ist und wird, steht in den Sternen. Ich könnte behaupten, dass das WG-Besichtigen ein neues Hobby von mir geworden ist.

von Anne-Kathrin Oestmann

Lichtdurchflutetes Zimmer – die nächste WG, welche ich besuchte. Diesmal befand sie sich nicht wie so häufig in der Neustadt, sondern zwischen Mitte und Bahnhofsvorstadt. Eine Parallele zur Falkenstraße. Da wo sich die immer überfüllte 10 von Sebaldsbrück über den Hauptbahnhof nach Gröpelingen schlängelt. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Gegenüber des Reihenhauses steht ein hohes Gebäude, hinter dessen milchigen Fenstern Autos parken.

An der Tür begrüßten mich die zwei Mitbewohner. Ich zog meine Schuhe aus, stellte sie neben der Garderobe ab, die nicht an der Wand hing, sondern auf dem Boden lag. „Wiedereinmal“ sie blickten auf das Holzgestell hinunter und lachten. „Das Teil bleibt einfach nicht hängen.“ Der erste Gang führte direkt in das freie Zimmer. Auch wenn die beiden über ihre Anzeige-Poesie spotteten – mit ihrer Beschreibung hatten sie Recht. Die Altbauwohnung hatte hohe Decken. Die Wand zur Straße hinaus war von vielen, kleinen, quadratischen Fenstern gespickt, die zwei große Fensterfronten bildeten. Der Ausblick auf die „Hochgarage am Wall“ war nicht unbedingt der Schönste, aber die Fenster ließen viel Sonne in den Raum. Ganze zwanzig Quadratmeter, die sich im Sommer ganz schön aufheizen würden. Die Feuerwehrwache liegt im Erdgeschoss – zwei Häuser weiter. Wenn diese zu einem Einsatz fahren, setzt das Martinshorn mit voller Wucht an der großen Kreuzung ein. Herzinfarkte um vier Uhr morgens seien nicht ausgeschlossen.

Wir wanderten durch den kurzen Flur, an der am Boden liegenden Garderobe, einer Vorratskammer in dem Gemüse in Gläsern, Staubsauger und Feudel-Eimer deponiert wurden, vorbei hin zu einem weiteren Zimmer. Es gehört der Mitbewohnerin mit dem breiten Lachen. Gerade einmal halb so groß. Dafür angrenzend an einem breiten Balkon aus massiven Steinwänden auf denen Blumentöpfe standen – Blumentöpfe mit toten Blumen. Als sie eingezogen ist, sei ihre Oma vorbeigekommen und hat den kalten Balkon ein wenig wärmer machen wollen. Den grünen Daumen habe ihre Enkelin aber nicht. Entweder bekamen die Pflanzen zu viel oder zu wenig Wasser. Sie hofft, dass ihre Oma bald noch mal kommen würde, um die Überreste wieder zum Leben zu erwecken.

Wir setzten uns in die Küche. Der Holztisch nahm fast den gesamten Platz ein. Auf der Tischplatte lag eine Schachtel Schokopralinen von der billigen Sorte – schmeckten aber auch. Rechts neben dem Fenster stand ein schiefes Regal, das mit Nudeln und Orangen gefüllt war. Links neben der Küchenzeile stand ein weiß-grauer Kühlschrank. Darauf waren vier Flaschen harter Alkohol platziert. Rum, Wodka, Gin, Berliner Luft oder Jägermeister? Wie Pokale reihten sich die bauchigen Flaschen aneinander. Die Etiketten zeigten nach vorne.

Sie ist sportlich, trägt Shape Tights von Nike oder Adidas, ist fast täglich im Fitnessstudio und studiert an der Universität Bremen. Ihr Lachen ist laut und rau. Gefeiert wird hier viel. „Jetzt nicht jedes Wochenende, aber bestimmt so jedes zweite“ meinte sie. Die Küche sei auch viel zu klein, dann stehen sie häufig auf dem Balkon. Trinken. Rauchen. Er versucht mit ihr mit zu halten. Sport machen sie gemeinsam, bestimmt auch feiern. Und sonst so? „Was man halt so macht als Studi“ sagte sie. Uni in der Woche, Feiern am Wochenende, Sport am Tag und Netflix in der Nacht. „Eine Serie nach der anderen.“ Da fängt er mit gesenkten Kopf an zu grinsen und ich sehe seine schiefen Schneidezähne. Er hat seine Ausbildung als Pilot abgeschlossen und verlässt Bremen, Deutschland und den Kontinent. Für ihn geht es auf die andere Seite des Ozeans in die USA, nach Kalifornien, Los Angeles.

Bild: Anne-Kathrin Oestmann

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