Der bravouröse Bernhard – Kapitel 2
Eine Fortsetzungsgeschichte
Von Bastian Bönisch
Es ist nur der Wecker, den jemand auf 18:45 Uhr gestellt haben musste, bevor das Handy in Tannes Besitz geriet. „Also habe ich noch eine Viertelstunde Zeit, um herauszufinden, was ich um 19:00 Uhr tun soll“ sprach Tanne mit sich selbst, während sie sich langsam ihren Weg über den Vorplatz des Stuttgarter Bahnhofes bahnt. Die Leute, die aus dem Bahnhof strömten, schauen sie an, als hätten sie noch nie eine Tanne in freier Wildbahn gesehen. Wie in der Weihnachtszeit typisch, ist der Hauptbahnhof überfüllt mit Menschen, die auf dem Weg zu ihren Familien sind oder die Besonderheiten des Stuttgarter Weihnachtsmarktes bestaunen wollen. Vielleicht sollte ich auch eine meine Familie besuchen, denkt sich Tanne und überlegt, mit welcher Zugverbindung sie wohl am einfachsten ins norwegische Tannengebirge kommen würde. Nicht möglich, kommt ihr der Entschluss, denn in erster Linie fehlen ihr dafür die finanziellen Mittel. Das ist der Hauptgrund dafür, dass sie ihre Familie das letzte Mal im Winter 2012 gesehen hat, bevor sie sich entschieden hatte, ihr Glück in Deutschland zu versuchen. Rückblickend ist dies eine der Entscheidungen, die sie in jedem Alternativ-Szenario nicht getroffen hätte. Aber in dieser Welt hatte sie die Entscheidung nun mal getroffen, auch wenn alle ihre Freunde und ihre Familie ihr davon abgeraten hatten. Tanne wünschte sich oft, die Geschehnisse rückgängig machen zu können. Dass sie sich dazu entschieden hätte, den Flug von Oslo nach München doch nicht anzutreten. Dass sie in München niemals damit angefangen hätte, ‚Norwegische Forstwirtschaft‘ zu studieren. Dass sie sich in keinem Fall auf das Angebot des netten jungen Mannes hätte einlassen sollen, durch welches sie sich angeblich ein paar Euro in der Weihnachtszeit hätte dazuverdienen hätte. Aber so war es nun mal. Karim, der damals noch nette junge Mann, nutzte sie seitdem jeden Winter aus, damit sie arme Touristen belästigt und diese von seinen Produkten zu überzeugen versucht.
Während Tanne in ihrem Selbstmitleid versunken war, hat sie gar nicht gemerkt, wie weit sie in der Bahnhofshalle vorgedrungen war. In der Ferne kann sie schon die blaue Anzeigetafel sehen, auf der die Abfahrten angezeigt werden. 18:56 Uhr. Noch 4 Minuten bis es Sieben Uhr war. Tanne dachte darüber nach, ob das kleine Kind tatsächlich die Uhrzeit meint. Oder war etwa doch einer der vielen Regionalzüge gemeint? Eventuell auch Gleis sieben? Während sich die Leute in ihrem Tannen-Geäst verfangen und ihr böse Blicke zuwerfen, entdeckt Tanne einen kleinen Hoffnungsschimmer auf der Abfahrtstafel. Um Punkt 19 Uhr würde der ICE 3492 über Frankfurt und Köln nach Bremen fahren. Alle anderen Abfahrten sind deutlich später, der nächste Zug fährt erst um 19:08 Uhr in Richtung Basel. Sie entscheidet sich also dafür, den ICE in Richtung Bremen zu nehmen. Glücklicherweise wird auf der Anzeigetafel hinter der Zugbindung ein „Verspätung ca. 10 Minuten“ hinzugefügt. Tanne hat also genügend Zeit, zum Gleis zu kommen und könnte eventuell sogar einen Sitzplatz ergattern. Da die Menschenmassen im hinteren Bereich des Bahnhofs weniger werden, kann Tanne sich trotz ihrer Zweige schnell fortbewegen. Als sie die Treppen zum Gleis hinaufsteigt, kommen ihr plötzlich Zweifel und Ängste. Was ist eigentlich mit dem kleinen Kind geschehen, das sie hergeführt hatte? Sollte sie nicht vielleicht besser die Polizei einschalten? Ein funktionsfähiges Handy hat sie ja jetzt. Als sie das Ende der Treppe erreicht, stößt sie auf das nächste Problem: Sie hat ja gar kein Geld, um sich ein Ticket für die Zugreise zu kaufen. Und apropos Geld, was würde Karim eigentlich sagen, wenn sie plötzlich nicht mehr auf der Arbeit erscheinen würde? Während Tanne von all diesen Fragen gequält wird, kam die Durchsage, dass der ICE in den Bahnhof einfahren würde. Sie muss die Entscheidung also unter Zeitdruck treffen. Während sie darüber nachdenkt, ob sie lieber bei Karim bleiben sollte und noch ein ganzes Jahrzehnt die glückliche Tanne für die Touristen spielen soll, vibriert das Handy erneut. Diesmal ist es aber nicht der Wecker, sondern eine Nachricht. „Steig ein“ steht in der Nachricht, die von einem anonymen Absender verschickt wurde. Sie muss beobachtet werden. Tanne blickt sich ängstlich um, von den anderen wartenden Fahrgästen sieht jedoch keiner so aus, als würde er sich besonders für sie interessieren. Einzig ein älteres Ehepaar blickt sie ein wenig irritiert an, dies dürfte aber eher an ihrem Kostüm liegen. In dem Moment, als der ICE auf das Gleis einfährt, kramt Tanne ihre Brieftasche hervor und hofft auf ein Wunder, sich vielleicht doch noch irgendwie ein Ticket leisten zu können. Dieser mysteriöse Bernhard hätte wenigstens ein bisschen Reisegeld dazulegen können, ärgerte sich Tanne, als ihre Berechnungen ergeben, dass sie noch 10,48€ in ihrer Brieftasche hat. Auf ihrer Bankkarte dürfte nicht viel mehr sein, ein Ticket kann sie sich also auf keinen Fall kaufen.
Tanne steigt trotzdem in den Zug. Lieber hört sie auf einen anonymen Absender, als noch einen weiteren Tag für Karim zu arbeiten. Außerdem ist sie ihrer Familie in Norwegen damit schon ein ganzes Stück näher. Zumindest habe ich all meine Wertsachen bei mir, denkt sich Tanne. Ihr Handy, ihre Brieftasche und ihre Uhr sind die letzten Dinge, die noch irgendeinen Wert haben. Alles andere hatte sie verkaufen müssen, da die Bezahlung von Karim unterirdisch schlecht ist. Tanne lässt die aussteigenden Fahrgäste an sich vorbeiziehen und bemerkt gar nicht, wie diese ihr verwirrte Blicke zuwerfen. Sie und ihr Kostüm waren schon so verschmolzen, dass sie gar nicht daran denkt, es abzulegen. Außerdem trägt sie nur Unterwäsche, ein T-Shirt und eine kurze Hose darunter, da es unter dem Kostüm schnell mal warm werden konnte. Als sie endlich einen Doppelsitz gefunden hat, den sie aufgrund ihres Kostüms vollständig ausfüllt, fährt der ICE langsam aus dem Bahnhof heraus. Beim Blick aus dem Fenster bekommt sie einen Schock. Das kleine Kind steht dort und lächelt sie an. Tanne überlegt kurz, aus dem Zug zu springen und das Kind zur Rede zu stellen, die zunehmende Geschwindigkeit des ICEs lässt sie jedoch schnell von diesem Plan abkommen. Sie blickt aus dem Fenster, bis das Kind aus ihrem Blickfeld verschwunden ist und beginnt, sich zu entspannen. Die Zugfahrt sollte lang genug dauern, sodass sie genug Zeit haben würde, die Geschehnisse der letzten Stunde für sich selbst zu ordnen. Tanne lässt sich in den Sitz fallen und denkt über Karim, ihre Familie, das kleine Kind und den bravourösen Bernhard nach. Die Anstrengungen der letzten Stunden haben Tanne müde gemacht und sorgen dafür, dass sie einschläft.
Ein Ruf aus der Ferne lässt Tanne nach kurzer Zeit jedoch aus dem Schlaf aufschrecken. Die Waggontür öffnet sich und sie musste das hören, was sie schon fast wieder verdrängt hat. „Die Tickets bitte!“ ruft die Schaffnerin in den Wagen und war noch etwa 10 Sitzreihen von Tanne entfernt.