Das Nest verlassen und Fliegen lernen

Teil 5: Triefender Optimismus an der Wand

Seit Monaten suche ich schon nach einem neuen Zuhause. Doch die Traumvorstellung von einer zentralen Altbauwohnung mit meterhohen, stuckverzierten Decken, Fenstern, die nach Süden gerichtet sind, mit mindestens 15 Quadratmetern Echtholzdielen und einer kleinen gemischten Gruppe von kreativen Menschen Anfang 20 bleibt anscheinend in den vier Wänden meines utopischen Gedächtnis. Fakt ist – Altbauwohnungen sind rar und begehrt. Jede Pushnachricht von „WG-Gesucht“ wird mit Gier geöffnet und die nächstbesten Gelegenheiten ergriffen, um hoffentlich einen „Casting-Platz“ zu ergattern – ob das dann auch etwas ist und wird, steht in den Sternen. Ich könnte behaupten, dass das WG-Besichtigen ein neues Hobby von mir geworden ist.

von Anne-Kathrin Oestmann

Wieder einmal befand sich eine Wohnung in der Neustadt. Recht nah am zentralen Knotenpunkt „Leibnizplatz“, einen Katzensprung von der Weser entfernt und der berühmt berüchtigten „Tequila Bar“ am Straßenende. Gerade einmal drei Minuten würde man bis zur Haltestelle der Straßenbahn sprinten müssen. Falls man einen riskanten Gang über die stark befahrene Straße wagt, welche die Neustadt und das Stephanievirtel miteinander verbindet. Die WG lag im Erdgeschoss eines Reihenhauses. Das lästige Treppensteigen, bei dem der Großeinkauf zum Ausdauertraining für Fortgeschrittene mutiert, würde weg fallen – welch eine Erleichterung. Die dunkel-braune Außenfassade des Hauses hingegen ließ nur einen Gedanken laut werden – „Wer sucht sich solch eine Farbe aus?“. Ich wurde von den zwei Mitbewohnerinnen Ende zwanzig in die zusammen-gewürfelte Küche gebeten. Sie boten mir Kaffee aus der Pad-Maschine und Kuchen aus der Tupperdose an. Der ungewöhnliche Farbgeschmack der Hauswand wurde von zahlreichen DIN A6 Postkarten, welche die Tapeten tapezierten, übertrumpft. Unter dem Gewürzregal hing eine Karte mit der Aufschrift „Du bist ZUCKER!“. Über dem Esstisch schmückte ein vergilbtes A0 Bierplakat die Wand, dessen Ränder sich wie verwelkte Blüten nach Innen krümmten. Es hing wahrscheinlich schon in Zeiten dort, als die Studiengebühren gute 100 Euro günstiger waren. Neben der Balkontür klebte eine Postkarte mit dem Appell „Wenn das Leben dir eine Zitrone gibt, frag nach Salz und Tequila!“ Triefender Optimismus vereint mit einer Unmenge an Humor. Eine Reizüberflutung war nicht aufzuhalten und ich verschluckte mich fast an einem Kuchenkrümmel. Ihre bisherige WG-Konstellation ginge nicht richtig auf, hieß es. Mehr wollten sie mir nicht erzählen, doch dann sprudelte es aus ihnen heraus. Der Mitbewohner ernähre sich ausschließlich von Nudeln oder Reis aus der WG-Kasse und dem Essen, welches ihm seine Mutter aus der Heimat Tunesien schicke. Er räume nie die Küche auf, nachdem er das Vorgekochte aufgewärmt habe. An die App, über der Finanzen geregelt und Putzpläne festgelegt werden, halte er sich auch nicht. Er bringe kein Salz vom Einkauf mit, selbst wenn in der App stand, dass er Salz mit bringen sollte. „Es passt einfach nicht“ sagte sie im Ausatmen und starrte auf die restlichen Kuchenstücke – schließlich machen sie sich nun auf die Suche nach jemanden für das frei gewordene Zimmer. Es hatte ein halbrundes Fenster, das von der einen bis zur anderen Wand und zur stuckverzierten Decke reicht. An der Gardinenstange hingen zwei Tontöpfe, in denen sich Kletterpflanzen wohl fühlten. Es blickte zur Straße hinaus und hatte an der Fensterscheibe einen Sichtschutz, bevor man wie in einem Schaufenster von neugierigen Fußgänger_innen beim Schlafen beobachtet werden könnte. Der Stil der beiden anderen Zimmer glich dem Content der Küchen-Postkarten – pink und rosa, mit viel Synthetik-Plüsch und Bilderrahmen von IKEA bei denen die Vorschlag-Bilder „Live your Life“ oder „Home sweet Home“ in kursiv noch nicht geändert wurden – oder niemals geändert werden sollten? Im Badezimmer gab es außer Dusche, Kloschüssel, Spiegel und Waschbecken genau drei parallel verlaufende leere Hacken. „Jeder hat einen – für sein Handtuch, wenn er sich duscht“ sagte sie bestimmt. Ich musste einmal laut schlucken – die Orga würde mich fertig machen.

Bild: Anne-Kathrin Oestmann

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