Das Nest verlassen und Fliegen lernen

Teil 1: Das Minenfeld

Seit Monaten suche ich schon nach einem neuen Zuhause. Doch die Traumvorstellung von einer zentralen Altbauwohnung mit meterhohen, stuckverzierten Decken, Fenstern, die nach Süden gerichtet sind, mit mindestens 15 Quadratmetern Echtholzdielen und einer kleinen gemischten Gruppe von kreativen Menschen Anfang 20 bleibt anscheinend in den vier Wänden meines utopischen Gedächtnis. Fakt ist – Altbauwohnungen sind rar und begehrt. Jede Pushnachricht von „WG-Gesucht“ wird mit Gier geöffnet und die nächstbesten Gelegenheiten ergriffen, um hoffentlich einen „Casting-Platz“ zu ergattern – ob das dann auch etwas ist und wird, steht in den Sternen. Ich könnte behaupten, dass das WG-Besichtigen ein neues Hobby von mir geworden ist.

Anne-Kathrin Oestmann

Ich blickte auf ein alleinstehendes Haus in mitten der Stadt. Es war unendlich hoch und der Weg in den vierten Stock unendlich weit. Die Treppen raubten mir den Atem und noch bevor ich hechelnd an der Wohnungstür ankam, öffnete mir ein langer, schlaksiger Typ mit lockigen Haaren die Tür. Bei dem ersten Schritt über die Schwelle trat ich mit dem linken Fuß auf etwas, kleines, längliches Hartes. Nichts, was man hätte kaputt machen können – höchstens unbrauchbar – einen Tampon. Der quadratische Flur, von denen alle anderen Zimmer abgingen, war von Sneakers, Boots, Sandalen und Pantoffeln übersät. Ein reines Minenfeld von Schuhen, wobei jeder Schritt der letzte sein könnte. Rechts stand ein Kleiderständer, welcher seinen Zweck mehr als nur erfüllte. Kaum häufte ich meine Jacke auf die anderen und platzierte meine ehemals weißen Sneaker neben den Tampon, zeigten sie mir bereits das freie Zimmer. Ein wenig krumm geschnitten, ohne 90-Grad-Ecken, dafür aber mit einem versteckten Regal, welches in der Wand eingebaut war und bis zu der Decke reichte. An kühlen Sommertagen käme man ohne Leiter nie an die Pullis im obersten Regal. Ein kleines feines Zimmer mit Echtholzdielen. Bei jedem quietschenden Schritt eroberte es Stück für Stück mein Herz.

Auf einmal fühlte ich etwas Flauschiges an meiner Achillessehne – „das ist übrigens unsere Katze Mimi“. Schwarz-weiß-grau, zierlich und noch recht jung. Sie begutachtete mich skeptisch und spazierte davon, ohne mich mit einem weiteren Blick zu würdigen. Die restliche Wohnung war großzügig geschnitten. Vor allem ein Zimmer, welches ebenfalls als Ersatz-Wohnzimmer diente, inklusive Wintergarten, in dem das Bett eines Mitbewohners stand, ließ mich vor Staunen in einen alten Bürostuhl fallen. Dieser sah zwar unglaublich hässlich aus, da aus jedem Schlitz das Innenfutter herausquoll, dafür war er aber ungewöhnlich bequem. Ich sah mich um – Die eine Wand wurde mit einem riesigen, olivgrünen Quadrat bemalt. Die Schränke aus dunklem Holz waren für die Katze ein reines Kletterparadies. Auf dem Boden lagen Kontoauszüge, Hosen, Shirts und ein Spaghettilöffel herum.

Einer der Mitbewohner trug einen feinen Oberlippenbart und dünne, schulterlange Haare, welche ihn wie ein Zuhälter wirken ließen. Er reichte mir ein Bier, welches er zuvor mit einem Feuerzeug öffnete, aus dem Kasten, den er unter den kleinen Wohnzimmertisch hervorzog. Wir tranken frischen Ingwertee, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und sprachen über das Studium, Reisen in Minibussen, Freipinkeln in Marokko, Minijobs in Cafés oder auf archäologische Baustellen. An diesem Abend erlitt die 24-jährige Mitbewohnerin einen Nikotinrückfall und ich die größte Erleichterung meines Lebens – ich war nicht die unordentlichste Person auf dieser Erde.

Bild: Anne-Kathrin Oestmann

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