Zweierlei Maß für Menschenleben

Februar-Kolumne

von Nathalie Schrader

Warum stellen wir alles auf den Kopf, um Menschenleben zu retten, aber bloß, wenn diese durch eine Krankheit bedroht werden? Diese Frage kommt mir oft in den Sinn, wenn ich die Krisenbewältigungsstrategien unserer Bundesregierung verfolge.

Uns fällt es schwer, bequeme Verhaltensweisen aufzugeben, um dem höchsten Ziel eines jeden Lebewesens nachzugehen. Die Sicherung des Fortbestehens der eigenen Art scheint in manchen Lebensbereichen einen höheren Stellenwert einzunehmen, als in anderen. Das Auffällige dabei: Werden wir als Menschen durch kurzfristige Gefahren bedroht, läuft der Handlungsapparat unseres Landes schnell, flexibel und größtenteils ohne nennenswerte Schäden zu verursachen. Dann zählt jedes Menschenleben und man ist erstaunt wie die große Mehrheit eines Landes – vom Einzelnen bis in den Bundestag – sowohl zu spontanen, als auch gravierenden Verhaltensänderungen und Einschränkungen fähig ist. Die sich sonst eher von ihrer trägen Seite zeigende Bürokratie rattert wie ein Schweizer Uhrwerk, das System ist zu einer facettenreichen Umstellung bereit.

Werden wir durch kurzfristige Gefahren bedroht, läuft der Handlungsapparat des Landes schnell

In der Corona-Pandemie hat unser Land gezeigt, dass es zu Anpassungen bereit ist, wenn die Gesundheit seiner Schützlinge auf dem Spiel steht. Unter dem Motto „Leben retten“ sind über 80 Millionen Bürger, abzüglich der Querdenker, seit über einem Jahr bereit, kleine und große Teile ihrer Lebensgewohnheiten zu ändern. Die Belohnung fällt allenfalls als geringfügiges Bonusgeld aus, aber immerhin sind wir seit Anfang 2020 alle Sozialhelden. Für sogenannte Systemrelevante gibt es extra Applaus, zumindest online. Zwar offenbart die Pandemie hier und da Trägheit im System. Zum Beispiel, als Reiserückkehrer noch Ende März 2020 an diversen deutschen Flughäfen ohne Test- oder Quarantänepflicht anreisen durften. Oder als die Einrichtung von Impfzentren lange nach der Bestellung der Impfstoffe begann. Als wäre den Verantwortlichen Anfang Dezember plötzlich klargeworden, dass eine Impfung eines Tages gegen die Ausbreitung des Virus helfen könne. Alles in allem funktioniert radikales Handeln hier aber flüssig, auch wenn der, der tapfer den Dschungel an verschlungenen, wöchentlich und regional wechselnden Maßnahmen überblicken möchte, eine 40 Stundenwoche benötigt. Es wurde alles darangesetzt, zu retten, wen zu retten möglich war, entgegen den postulierten Steckenpferden unserer Nation: Bildung und Wirtschaft.

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Merkwürdigerweise wird mit zweierlei Maß gemessen, welche tödliche Krise unserer Handlungsbereitschaft und wirtschaftlicher Einschränkungen bedarf. Wie wird entschieden, ob unsere Regierung handelt? Am mangelnden Forschungsstand liegt es jedenfalls nicht, dass konsequente Maßnahmen gegen den Klimawandel von einem EU-Gipfel auf den nächsten verschoben werden. Bereits 1941 gab es die erste Studie zum anthropogenen Klimawandel und dessen möglicher Entwicklung und Folgen. Von der intelligentesten Spezies der Welt könnte man erwarten, darauf einigermaßen geschockt und plötzlich zu reagieren, schließlich zeichnen unsere Vorausschau und lösungsorientierte Kreativität uns doch aus, oder nicht? Der Schutz unseres elementarsten Zuhauses sollte von unvergleichlicher Priorität sein. Gemessen an Menschenleben verzeichnet die Welt jährlich ein Minus von etwa 150.000, die an Folgen der Klimaveränderungen, wie Hitze, Überschwemmungen oder Stürmen sterben, wenn auch sicherlich nur ein geringer Teil dieser Todesfälle in Deutschland geschieht. Möglicherweise macht es uns dieser Umstand so einfach, die Augen fest zu schließen, denn was wir nicht sehen, sieht uns auch nicht, oder?

Solange die Bedrohung für das eigene Leben fehlt, ist es einfach, nötige Maßnahmen zu verschieben

Noch betrifft uns das Problem peripher, nicht zu persönlich – und dass die Rettung von Menschenleben in den Augen der Regierung im eigenen Land von höherer Bedeutung ist, als im Ausland, gar auf anderen Kontinenten, ist auch nicht neu. Solange die direkte Nähe und somit die unmittelbare Bedrohung für das eigene Leben fehlen, ist es einfach, diese akut nötigen Maßnahmen zu verschieben. Es scheint, als wolle man die luxuriösen, kurzfristigen Vorteile von klimaschädlicher Energiegewinnung noch möglichst lange nutzen und dabei verdrängen, dass ein Wandel unausweichlich ist. Unsere Regierung bevorzugt Trägheit und schiebt das Ziel eines gesunden und nachhaltigen Lebens immer weiter auf. Denn was weit weg ist, kann man sich in den schönsten Farben herbeiillusionieren, ohne auf Bequemlichkeit im Moment verzichten zu müssen. Das Kartenhaus an Ausreden fällt zusammen, wenn sich die ersten Folgen der Trägheit in Körper und Geist manifestiert haben. Dann verspricht plötzliches Handeln auf einmal mehr Lebensqualität, gar Überlebenssicherung. Die Folgen der Erkrankung werden dennoch schmerzhaft bis tödlich bleiben.

Der Umgang mit der Pandemie in Deutschland birgt Hoffnung, denn er zeigt, wie spontan wir uns einschränken können, um zu retten und um zu überleben. Die Omnipräsenz eines Problems in unserem Bewusstsein spielt dabei eine entscheidende Rolle. Wenn wir – und vor allem unsere Regierung – diese Dringlichkeitsmaßstäbe aber nicht für andere, langfristige Bedrohungen wie den Klimawandel ansetzt, wird eine Problemeindämmung irgendwann nicht mehr möglich sein. Wir werden uns fragen, warum wir aus der Pandemie so wenig über Problemprävention gelernt haben.

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