Letzte Chance für eine Kindheit

UNICEF informiert: Die Situation von Flüchtlingskindern in Jordanien

Von Laura Acksteiner

Der anhaltende Krieg in Syrien hat bereits mehr als vier Millionen Menschen in die Flucht und in eine ungewisse Zukunft getrieben. Manche schlagen sich bis nach Europa durch, aber der Großteil sucht Schutz in Syriens Nachbarländern. So auch in Jordanien, wo syrische Flüchtlinge in provisorischen Behausungen und teilweise unter schlechten Bedingungen leben, angewiesen auf die Unterstützung von außerhalb. Die Hilfsorganisation UNICEF nimmt sich vor allem den jüngsten Opfern dieses Krieges an und hilft Kindern nach der Flucht zurück in ein geregeltes Leben.

Im Oktober 2016 reiste Ellen Reichel mit UNICEF nach Jordanien. Die gebürtige Hessin ist Doktorandin im Bereich Internationale Politik an der Universität Bremen. Für UNICEF Deutschland engagiert sie sich in Bremen seit nun drei Jahren, betreibt Informations- und Aufklärungsarbeit und unterstützt damit die Hilfsorganisation bei ihren Kampagnen. Schließlich wurde sie als eine von zehn deutschen UNICEF-Ehrenamtlichen für eine sechstägige Projektreise nach Jordanien ausgewählt. Während ihres Aufenthalts dort bekam Ellen Reichel nicht nur einen Einblick in die Arbeit der Hilfsorganisation vor Ort, sondern auch in die Lebenswelten von syrischen geflüchteten Familien und ihren Kindern, die in ihrer neuen Heimat noch einmal ganz von vorne anfangen müssen. Zurück in Bremen, möchte die Ehrenamtliche nun von ihren Erlebnissen in Jordanien berichten und auf die dortige Arbeit von UNICEF aufmerksam machen.

Sechs Tage – Tausend Eindrücke

UNICEF Dt/2016/Hai Ha Tran

Drei Monate nach der Reise erzählt mir Ellen von diesen sechs Tagen in Jordanien, als sei sie erst gestern zurückgekehrt. Das Land im Mittleren Osten hat seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien rund 633.000 syrische Geflüchtete aufgenommen. Viele von ihnen wohnen in Flüchtlingscamps außerhalb der Städte, wo sie sich mit Unterstützung von internationalen Hilfsorganisationen, darunter auch UNICEF, ein neues Leben aufbauen müssen. Doch die Situation in den Camps bleibt auch nach Monaten kritisch. „Die Menschen haben oft stark den Wunsch außerhalb des Camps zu leben, weil m
an einfach keine Entscheidungsgewalt über sein Leben hat, keine Gestaltungsmöglichkeiten,“ erklärt mir Ellen im Gespräch. „Man wird zwar versorgt, aber auch nicht unbedingt ausreichend. Eine Familie, die wir im Camp Asrak besucht haben, hat uns gesagt, dass die Lebensmittelhilfe, die sie für einen Monat bekommen, für zehn, maximal 17 Tage reicht. Sie hungern da also auch teilweise. Da versteht man, dass sie dort nicht bleiben wollen. Aber es ist natürlich schwierig, sich das Leben draußen zu finanzieren. Man bekommt zwar ein bisschen Unterstützung, das reicht aber nicht aus. Es hat sich jetzt gerade ein bisschen geändert, aber lange Zeit durften Syrer überhaupt nicht arbeiten. Sie bekamen keine Arbeitserlaubnis, sodass sie sich ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen konnten.“ Die feh
lende Möglichkeit zu einem selbstbestimmtenLeben spiegelt sich auch im Erscheinungsbild des Camps Asrak wieder. In Reih und Glied stehen dort Blechhütten, die farblich mit der beigen Einöde der Sandwüste verschmelzen – ein Anblick, dessen Tristesse der Bremer UNICEF-Ehrenamtlichen besonders im Gedächtnis geblieben ist.

Neuanfang in Jordanien

UNICEF Dt/2016/Frank Jonat

Während der Projektreise besuchte Ellen Reichel mehrere sogenannte Makani-Zentren, die von UNICEF unterstützt werden. „Makani ist arabisch und heißt so viel wie ‘Mein Platz’ oder ‘Mein Ort’“, erklärt sie. „ Das sind Jugendzentren, die es teilweise in Jordanien auch schon vorher gab, die jetzt aber mit der Unterstützung von UNICEF neue oder erweiterte Aufgaben übernehmen.“ Zu diesen Aufgaben gehören die psychosoziale Betreuung der Kinder, aber auch ein informelles Unterrichtsangebot. Die Makani-Zentren bieten Flüchtlingskindern in erster Linie eine feste Anlaufstelle, in der sie einen geregelten Tagesablauf haben, betreut und versorgt werden und einfach Kind sein können. Die Betreuer in den Makani-Zentren bemühen sich, den Kindern Perspektiven zu schaffen durch vielfältige Projekte und Fortbildungsangebote, aber auch durch sogenannte „Life-skill classes“, in denen die Kinder sich ihrer selbst und ihren Interessen und Wünschen bewusst werden sollen. Ein solches Zentrum entstand auch in Zaatari, dem ältesten und in den internationalen Medien wohl präsentesten Flüchtlingscamp Jordaniens. Bei ihrem Besuch des Camps lernte Ellen Reichel die Kinder des Jugendzentrums kennen. Diese besuchen halbtags eine Schule und verbringen die restliche Zeit im Makani-Zentrum. In der Schule traf die Bremer Ehrenamtliche auf die drei Schülerinnen Malak, Waed und Angheem, die mit 16 Jahren schon sehr selbstbewusst erzählten, was sie einmal werden wollen. Die Mädchen waren sich aber auch im Klaren, dass eine solche Ausbildung und Betreuung im Flüchtlingscamp nicht selbstverständlich ist. In einer Schule in Asrak ist die Situation zum Beispiel ganz anders. Dort herrscht akuter Platzmangel und durch die Blechhütten lernen die Kinder teilweise bei unzumutbaren Temperaturen. Die Mädchen aus Zaatari sprechen mit Ellen auch über Hoffnungen und Träume für die Zukunft und in einem sind sie sich einig: Sie möchten eines Tages nach Syrien zurückkehren können und dabei helfen, ihr Land wieder aufzubauen.

Kindheit statt Arbeit

UNICEF Dt/2016/Hai Ha Tran

Neben den Makani-Zentren, waren auch Besuche von syrischen Flüchtlingsfamilien Teil des Programms der UNICEF
Projektreise. Sowohl in Amman, der Hauptstadt Jordaniens, als auch in den Camps Zaatari und Asrak durfte Ellen Reichel mit ihren Kollegen eine Familie in ihren eigenen vier Wänden besuchen und ihren Alltag kennen lernen. Bei den Gesprächen wurde klar: Es fehlt an finanzieller Unterstützung. „UNICEF unterstützt besonders gefährdete Familien mit 20 jordanischen Dinar pro Kind. Dies gilt aber maximal für vier Kinder. Der Maximalbetrag, den eine Familie erhalten kann, sind 75 jordanische Dinar. Wir waren bei einer Familie mit zehn Kindern. Sie bekommen auch nur 75 Dinar. Da denkt man einfach, da muss mehr getan werden, mehr gespendet werden, damit die Menschen besser versorgt werden können“, erläutert Ellen. Um überhaupt über die Runden zu kommen, schicken viele Familien ihre Kinder arbeiten. Obwohl Kinderarbeit in Jordanien offiziell verboten ist, werden Kinder allzu oft schwarz angestellt. „Zum Beispiel in Zaatari waren wir bei einer Familie, bei der der 14-jährige Sohn von morgens um fünf bis nachmittags um vier als Tomatenpflücker außerhalb des Camps arbeitet,“ berichtet Ellen. „Das bedeutet für die Kinder oftmals eine schwere körperliche Arbeit, dann oft keine gute Ernährung. Und natürlich gehen sie in der Zeit, in der sie arbeiten, nicht zur Schule, sodass die Perspektiven, dass sich in der Zukunft etwas an ihrer Situation ändert, auch nicht steigen.“ UNICEF setzt sich gegen Kinderarbeit ein und versucht durch finanzielle Unterstützung den Familien die Notwendigkeit zu nehmen, ihre Kinder schwarz arbeiten zu lassen. Doch in den Fällen, in denen der Maximalbetrag nicht ausreicht, wird sich sobald nichts ändern. Viele Minderjährige sehen es weiterhin als ihre Pflicht zu arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen. So lernte Ellen Reichel in Amman eine Gruppe von Jungen kennen, die mit ihren 12 und 13 Jahren schon voller Stolz von ihren Anstellungen als Polsterer, Schmied oder Mechaniker erzählten. Besonders diesen Kindern möchte UNICEF eine Chance auf eine Kindheit ermöglichen.

Vergesst uns nicht!

Die Bremer Ehrenamtliche möchte mit ihren Erzählungen von Jordanien Aufmerksamkeit und Interesse an der Arbeit von UNICEF erregen: „Konkret in Bremen können wir immer neue Ehrenamtliche gebrauchen, Leute die Interesse haben, UNICEF durch ehrenamtliche Arbeit oder auch durch Spenden zu unterstützen. Es braucht mehr Aufmerksamkeit – das war tatsächlich auch etwas, was uns viele Familien dort vor Ort gesagt haben, wenn wir sie gefragt haben, welche Botschaft wir mit nach Deutschland nehmen sollen. Zunächst einmal war es oft ein ganz großes Dankeschön dafür, dass so viele Syrer in Deutschland aufgenommen werden und auch für die finanzielle Unterstützung, die sie bekommen. Dann haben sie aber auch gesagt: ,Vergesst uns nicht! Wir sitzen hier jeden Tag, uns sind die Hände gebunden, wir brauchen Hilfe.‘ Das sollte man nicht vergessen, auch wenn man das Gefühl hat, dass Deutschland auch vor Herausforderungen steht.“
Jede Hilfe für die Region ist ein Schritt in eine bessere Zukunft. Dabei können bereits die kleinsten Dinge Großes bewirken, besonders für die Flüchtlingskinder in den Camps. Ein geregelter Tagesablauf und eine fürsorgliche Betreuung erleichtern es vielen Kindern bereits, die Flucht zu verarbeiten und wieder Freude am Leben zu finden. Nicht zuletzt sind es die Kinder, die solch trostlosen Orten wie Asrak ein wenig Farbe und Lebendigkeit verleihen. „Das sind Kinder, die unglaublich viel Widerstandskraft besitzen und wenn sie dann irgendwo sind und spielen, auch mal vergessen, in welcher Situation sie sich befinden. Mir ging das ähnlich, als wir im Makani-Zentrum in Asrak waren. Da gab es ein spontanes Fußballspiel: UNICEF- und NGO-Leute gegen die Kinder. Wir hatten natürlich überhaupt keine Chance und haben absolut verloren. Aber dann steht man da am Rand und feuert die Spieler auf dem Feld an und vergisst völlig, wo man sich in dem Moment befindet.“ UNICEF arbeitet dafür, dass solche Momente keine Seltenheit bleiben.

Ankündigung:

Am 28.01. im Kukoon in der Bremer Neustadt sowie am 02.02. an der Bremer Uni wird Ellen Reichel von ihrer Projektreise berichten und natürlich auch der Leserschaft des ScheinWerfers für Rückfragen zur Verfügung stehen. Weitere Infos zu den Veranstaltungen findet ihr unter:

Titelbild: UNICEF Dt/2016/Kerstin Schönenborn

 

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