tick…tick…BOOM!

Generationenübergreifendes Musical über Älterwerden und Selbstfindung

Am 17. Januar 2017 gab das Rock-Musical „tick…tick…BOOM!“ seine finale Vorstellung im Bremer Schnürschuhtheater. Annette und Rosi waren für den ScheinWerfer dabei und reflektieren in einem generationenübergreifenden Dialog die Grundthemen des Stücks: Älterwerden, Selbstfindung und Lebensziele.

Jonathan Larson wollte nicht weniger als das Musical-Genre revolutionieren. Ziel des Pulitzer-Preisträgers („Rent“) war es, der Generation X einen neuen Zugang zu dieser Kunstform zu eröffnen. Seine ungewöhnlich arrangierten Stücke thematisieren Multikulturalismus, Suchterkrankungen, Homophobie und AIDS und bieten auch heutigem Publikum viele Bezugspunkte. Sein stark autobiographisches „tick…tick…BOOM!“ erzählt den Werdegang des jungen Jon, der sich kurz vor seinem 30. Geburtstag im Jahr 1990 zwischen seinem kreativen Lebenstraum und einem festen Job mit sicherem Auskommen entscheiden muss.

Erstmals auf eine Bremer Bühne bringen das Stück die jungen Theaterschaffenden des Online-Musicalmagazins KULTURPOEBEL. Ähnlich wie Larson möchten sie junge Menschen für das Musical-Genre begeistern – neben Reviews und News zu deutschsprachigen und internationalen Aufführungen nun auch mit ihrer ersten eigenen Produktion.
Kirsten A., eine der beiden Gewinnerinnen unserer Ticketverlosung, kann die Interpretation des Stückes, das die Handschrift Larsons deutlich erkennen lässt, voll überzeugen. Sie lobt die „wahnsinnige Bühnenpräsenz“ des Hauptdarstellers Lukas Witzel, die Wandlungsfähigkeit seiner Duettpartnerin Pauline Schostok und sowie die „großartige Stimme gepaart mit Witz und Charme“ des dritten Darstellers Tobias Goetz.

Auch unsere Autorin Annette und Gastautorin Rosi ließen sich von der Aufführung mitreißen und zu einem Gespräch über die Themen des Stücks inspirieren. Die Fragen nach dem Älterwerden, dem eigenen Lebensmodell und der Suche nach dem Platz in der Gesellschaft sind von generationsübergreifender Aktualität. Während Rosi nur ein Jahr nach Jonathan Larson das Licht der Welt erblickte, gehört die 30 Jahre jüngere Annette zu der Generation, an die sich die neue Inszenierung wendet.

Annette: Du wurdest nur ein Jahr nach Jonathan Larson geboren, 1991 hast du deinen 30. Geburtstag gefeiert. Konntest du dich in der Figur des Jon wiederfinden?

Rosi: Wenn ich ehrlich bin, nein. Wir sind zwar ein Alter und im selben Zeitraum 30 Jahre alt geworden, aber unsere damaligen Lebenssituationen waren völlig anders. Jon war noch immer in der Position eines aufstrebenden, talentierten Musical-Komponisten.

Annette: Das hat er schön auf den Punkt gebracht: Er ist schon so lange vielversprechend, dass er Angst hat, das Versprechen zu brechen.

Rosi: Genau. Für ihn heißt das, beruflich noch nicht fußgefasst zu haben. Er war noch immer beim Versuch, sich zu etablieren. Bei mir war das anders. 1990 war ich bereits einige Jahre mit meinem Studium fertig, hatte eine Arbeit mit festem Auskommen und meinen Platz größtenteils gefunden. Mein Leben hatte einen völlig anderen Fokus. 1990 habe ich geheiratet und an meinem dreißigsten Geburtstag ein Jahr später war ich Mutter einer sechs Monate alten Tochter. Ich hatte so viel zu tun, dass ich gar nicht über die baldige 30 nachgedacht habe.

Annette: Hat sich das mit den Jahren geändert?

Rosi: Auch heute macht es mir nichts aus, älter zu werden. Meine Maxime lautet: Es ist nun einmal der Lauf des Lebens, älter zu werden und nichts dagegen tun zu können. Also muss man es hinnehmen. Natürlich setzt man sich mit der Zeit gedanklich immer mehr mit dem eigenen Älterwerden auseinander. Ich habe mit Anfang 50 begonnen, an meine Jugend zurück zu denken.

Annette: In diesem Zusammenhang finde ich die Frage interessant, die sich auch Jon stellt: War es immer schon so furchtbar, dreißig zu werden? Oder ist es für seine Generation besonders schlimm – eine Generation die keinen Krieg, keine Wirtschaftskrise zu überstehen hat. Fehlt es an gesellschaftlichen Idealen, denen er folgen kann? Angehörige vorangegangener Generationen hätten sich nie als Individuen beweisen müssen, hätten ihre Lebensaufgabe aus gesellschaftlichen Notwendigkeiten gezogen. Heute muss jeder seinem Leben selbst einen Sinn geben. Dir scheint es da anders ergangen zu sein und es sieht so aus, als sei es Jons ganz persönliches Problem.

Rosi: Auf jeden Fall waren mein Fokus und meine Maxime eine andere. Ich habe nie verstanden, dass sich jemand so sehr gegen das Älterwerden sperrt. Aber ich habe auch ganz andere Erfahrungen gemacht: Ende der 1980er Jahre hatte ich einen Kollegen, der bereits verheiratet war und zwei Kinder hatte. Sein Studium war beendet und er hatte beruflich Karriere gemacht. Etwa ein Vierteljahr vor seinem Geburtstag wurde ihm klar, dass er bald 30 werden würde. Ab dem Moment verfiel er regelrecht in Depressionen. Nach dem Musical habe ich mich gefragt: Mittlerweile geht der Mann auf die 60 zu, wie muss es ihm heute gehen, wenn er schon damals solche Probleme mit dem Älterwerden hatte?

Annette: Eine interessante Frage. Ich glaube, dass zwischen zwei Problemen unterschieden werden muss. Einerseits können Menschen das Älterwerden als schwierig empfinden, weil sie merken, dass sie körperlich abbauen. Dann wird jedes Bisschen eingebüßte Leistungsfähigkeit als Annäherung an den eigenen Tod empfunden.

Rosi: Dieser Tatsache ist man sich aber mit 30 Jahren noch nicht bewusst. Jon sagt selbst, wie eigenartig es ist, immer älter zu werden, obwohl man sich viel jünger fühlt.

Annette: Das stimmt. Vielleicht verstecken sich hinter der Angst vor einer Bestimmten Jahreszahl auch ganz andere Sorgen. Möglicherweise ist man mit dem eigenen Leben unzufrieden, hat jedoch den Eindruck, sich für einen Weg entscheiden zu müssen. Zumindest die Gesellschaft suggeriert dir: Mit Ende zwanzig kannst du kein neues Studium beginnen oder die berufliche Laufbahn wechseln. Nach dem Schulabschluss fühlt es sich an, als stünden dir alle Möglichkeiten offen, doch diese Chancenbreite verengt sich immer mehr. Ganz besonders, wenn du verheiratet bist oder Kinder hast. Du kannst nicht eines Morgens aufwachen und dir überlegen, doch kein Vater mehr sein zu wollen. Du kannst nicht dein gesichertes Einkommen zugunsten einer Künstlerkarriere aufgeben, wenn eine Familie zu ernähren ist. Sicherlich stellen sich mit Ende zwanzig viele Menschen die Frage: Möchte ich, dass die nächsten 30 Jahre so aussehen, wie die letzten? Jon nennt das „die Vorstufe zur Midlife Crisis“.

Rosi: Jon steht aber auch unter einem enormen Druck, den vor allem sein Vater aufgebaut hat: Er solle doch nun endlich mal die beeindruckende Karriere starten, das hätte schon längst passieren müssen. Dabei verfolgt Jon eine nicht selten „brotlose Kunst“ und eben keine sichere Karriere wie sein Freund Michael. Zusätzlich wird Jon als großes Talent gehandelt und sieht sich immer wieder in seinem Glauben bestätigt: Ich habe Talent, ich kann das schaffen. Doch der Durchbruch blieb bisher aus und nun rückt die selbstgesetzte Deadline näher und er ist noch immer nicht weitergekommen. Natürlich entstehen dann Selbstzweifel, von denen Jon sehr zerfressen ist.

Annette: Sein Vater beendet ihre Telefonate stets mit dem abgewandelten Zitat „Möge die Arbeit mit dir sein.“ Das sagt viel über seine Sicht der Dinge aus. Dazu kommt, dass mit zunehmendem Alter auch die Personen älter werden, mit denen man verglichen wird und sich selbst vergleicht. Und je älter diese Leute sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie bereits etwas erreicht haben im Leben. Anfang 20 stecken noch alle gleichermaßen in der Selbstfindungsphase, aber mit 30 sind Eltern oder Gesellschaft nicht mehr so nachsichtig. Da kommen dann sicherlich auch die Generationsunterschiede zum Tragen: „Als ich so alt war wie du…“

Rosi: Bei „tick…tick…BOOM!” spielt in diesem Zusammenhang auch der Konflikt ‚kreatives Wagnis versus finanzielle Sicherheit‘ eine entscheidende Rolle. Dabei muss es nicht nur um künstlerische Berufe gehen, sondern beispielsweise um die Entscheidung zwischen Selbstständigkeit und sicherer Festanstellung. Und egal, wie man sich entscheidet, Unzufriedenheit kann sich immer einstellen. Jons Freund Michael hat seinen Traum der Schauspielerei zugunsten einer materiellen Absicherung durch einen festen Job in der Marktforschung aufgegeben. Doch trotz der materiellen Belohnungen trauerte er auch mit 30 noch seinem Kindheitstraum nach und rät letztendlich auch Jon: „Gib deinen Traum nicht für finanzielle Absicherung auf.“

Annette: Allerdings sollte auch erwähnt werden, dass zur Verwirklichen der eigenen Träume mehr gehört als Durchhaltevermögen und der Wunsch, es zu schaffen. Nicht jeder hat das Glück, von einem Stephen Sondheim entdeckt zu werden, wie es Jon und seinem Vorbild Jonathan Larson ergangen ist. Jon möchte nicht nur mit Kreativität den Lebensunterhalt bestreiten, sondern gleich das ganze Musical-Genre umstülpen. In diesem Sinne suggeriert auch Larsons Stück: Wenn man sich kreativ verwirklichen möchte, dann aber auch mit dem gebührenden Erfolg.

Rosi: Für seinen Wunsch nimmt Jon aber auch allerlei Entbehrungen auf sich. Er ist von seinem Traum beseelt und richtet all seine Handlungen danach aus. Zu dieser inneren Überzeugung kommt natürlich noch das Quäntchen Glück, dass Stephen Sondheim auf ihn aufmerksam wird. Ich glaube, für alles, was du im Leben tust, gilt: Hast du ein Ziel hinter dem du stehst, dann setzt du dich auch ganz anders für die Sache ein und hast Erfolg. Das hat auch mit Selbstsuggestion zu tun.

Annette: Irgendwann muss Jon erkennen, dass er derjenige sein muss, der sich und seinem Traum glaubt. Das kann ihm niemand abnehmen und nur so kann er selbst die Lebensentscheidungen treffen. Bei Jons Freundin Susan ist es ganz ähnlich: Sie möchte ihren Lebensunterhalt durch Tanzen bestreiten und trennt sich schließlich sogar von Jon, um mit einer kleinen Tanzgruppe zu arbeiten.

Rosi: In dem Zusammenhang ist das Vorwort der Produzenten des Stückes interessant. Nach anfänglichen Zweifeln, ob sie wirklich ein eigenes Musical auf die Beine stellen könnten, stellen sie rückblickend fest: „Es war verrückt und naiv und wohl die beste Entscheidung unseres Lebens.“

Annette: Überhaupt befinden sich die jungen Darsteller, Musiker, Produzenten und Regisseure in einer ganz ähnlichen Situation wie Jon, Susan und Michael [Jons bester Freund, Anm.d.Red.]. Sie müssen sich entscheiden, ob sie ein kreatives Wagnis eingehen wollen oder nicht. Eine der aus meiner Sicht stärksten Szenen des Stücks verdeutlicht das schön: Als Jon und Susan sich bereits getrennt haben, um jeweils ihre eigenen Wege zu gehen, findet eine wichtige Aufführung von Jons Stück „Superbia“ statt. Während der Aufführung erkennt er die Ähnlichkeiten einer seiner Figuren mit Susan. Verdeutlicht wird diese Einsicht, indem die Darstellerin der beiden Frauen – Pauline Schostok – eine Perücke trägt, die ihr Jon langsam vom Kopf zieht, während sie singt. Ihm wird klar, was Susan ihm über Träume und Verantwortung sagen wollte und er dies im Grunde schon die ganze Zeit wusste.

Rosi: Das stimmt, die Szene ist sehr stark. Sowieso hat mir die Inszenierung ausgesprochen gut gefallen. Auch das Schnürschuhtheater als Kulisse war toll. Ich war zum ersten Mal dort und es ist sicherlich ein Geheimtipp. So unkonventionell wie das ganze ausschaut, so unkonventionelle Darbietungen wird es dort geben. Der gewölbeartige, kleine Raum macht den Eindruck, man säße im heimeligen Wohnzimmer. Schon der Weg zu den gemütlichen Sitzen führte direkt am Schlafzimmer von Susan und Jon vorbei. Bühne und Zuschauer waren eins und man hatte das Gefühl, die Handlung mitzuerleben. Das Bühnenbild war schlicht, hat aber alles Notwendige abgedeckt.

Annette: Ganz besonders haben mich die Stimmen der drei Darsteller beeindruckt. Hauptdarsteller Lucas Witzel passte nicht nur optisch, sondern auch durch seine Stimme zu der Figur des Jon. Auch die Emotionen hat er super rüber gebracht. Mir hat außerdem gut gefallen, dass sämtliche Rollen auf drei Darsteller verteilt worden sind. Die Besetzungen haben immer super gepasst – ob nun Michael zwischenzeitlich zu Jons Vater wurde oder Susan zu dessen Agentin.

Rosi: Und auch die tagebuchartige Erzählweise aus Jons Sicht führt gut durch die Geschichte. In den übergreifenden, allgemeingültigen Tagebuchtext fließen einzelne Schlüsselszenen ein, das ist sehr gut gemacht.

Annette: Sehr schön ist die Sequenz, als Jon Marshmallows kaufen möchte. Ganz verschämt geht er in einen kleinen Hinterhofladen, tätigt ein paar Alibieinkäufe, doch eigentlich geht es ihm um die Süßigkeiten, die er seit Kindertagen liebt. Das ist die zugespitzte Aussage des Stücks: Auch im Erwachsenenalter darf man sich seine kindlichen Seiten bewahren – und an Träumen festhalten. Mich hat das Musical mit einem sehr positiven Gefühl zurückgelassen.

Rosi: Und diese Einsicht ist nicht auf die Zeit zwischen 20 und 30 beschränkt, sondern gilt für jedes Lebensalter. In jedem Fall lässt sich sagen: Dass die erste eigene Produktion bereits derart stimmig inszeniert ist und generationenübergreifend funktioniert, lässt für die Zukunft auf Großes hoffen. Die Zusammenarbeit KULTURPOEBEL – Schnürschuhtheater sollte auf jeden Fall eine Fortsetzung erfahren. „tick…tick…BOOM!“ ist eine Bereicherung für Bremens kulturelles Leben. Und die kleinen Marshmallow-Tütchen auf jedem Sitz waren sehr nett!

tick… tick… BOOM!
Produzenten: Marina Pundt, Stephan Huber
Regie: Laure Achouline
Musikalische Leitung: Dennis Tosun
Darsteller: Lukas Witzel (Jon), Tobias Goetz (Michael), Pauline Schostok (Susan)

Mehr Informationen findet ihr hier: www.ticktick-boom.de

Titelbild und Fotos der Szenen: © KULTURPOEBEL.de/Lennart Schaffert

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