„… nur ein paar Cent, die sich mit der Zeit summieren“

Soziale Realität im theoretischen Studentenleben

Die Schere zwischen Arm und Reich weitet sich kontinuierlich. Dies bekommen auch die Studierenden an der Universität Bremen zu spüren. An der Exzellenzuni werden sie auf ein erfolgreiches Leben vorbereitet. Doch dass studieren längst nicht mehr vor Altersarmut und sozialem Untergang schützt, zeigt die steigende Zahl der Flaschensammler auf dem Campus.

Von Christine Leitner

Geschäftig tummeln sich zahlreiche Studenten auf dem Boulevard der Universität Bremen, vertieft in anregende Gespräche über die letzte Vorlesung oder das nächste Seminar. In der Cafeteria und der Bibliothek eignen sie sich vor ihren Apple-Notebooks, Büchern und Mitschriften Wissen für die anstehenden Klausuren an. Das ist sie, die Zukunft Deutschlands, junge Menschen, die auf ihre Berufe als Juristen, BWLer, Lehrer, Forscher oder Journalisten vorbereitet werden und das Land wirtschaftlich voranbringen sollen. Doch das Bild wird getrübt: Ältere Männer und Frauen mit Plastiktüten huschen verstohlen über den Campus, werfen kurze Blicke in Mülltonnen und lesen im Gehen die ein oder andere Flasche auf, um sie in die Tüten zu stopfen. Was bedeutet das nun für uns Studenten? Ist es ein bitterer Vorgeschmack darauf, was uns in einigen Jahren erwartet?

Im Gespräch

Es gibt nicht viele Menschen, die sich trauen, dieses Thema anzusprechen und damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Besonders wenn sie selbst davon betroffen sind. André ist einer von ihnen. Nach einem Unfall kann er nur noch Teilzeit in einer Spedition arbeiten, daher ist er nachmittags meist an der Uni Bremen anzutreffen, wo er mit dem Flaschensammeln sein Einkommen aufstockt. Als wir uns zum Gespräch an einen der oberen Tische im GW2 setzen, verschwindet sofort die Mate-Flasche in seinem Jutebeutle, die einsam auf einer Bank steht. Das Flaschensammeln ist für ihn ein „netter Nebenverdienst, um sich die ein oder andere Sache nochmal extra zu erlauben,“ erklärt er. Mit seiner Lebensgefährtin teilt er sich die Mia-Card, um mit dem Zug aus Kirchweyhe nach Bremen zu fahren. Seit sechs Jahren sammelt er schon, an der Universität lohnt es sich besonders, schließlich gibt es hier kein Servicepersonal, das die Flaschensammler verscheucht. An Bahnhöfen hingegen, ist die Akzeptanz gering und nicht selten kommt es vor, dass der ein oder andere Sammler Hausverbot erhält. Auf die Frage hin, wie die Studenten mit der Tatsache umgehen, dass ältere Menschen nicht nur zum Studieren hier sind, betont André die hohe Toleranz. Diese liegt seiner Meinung vor allem an den jungen Menschen, „die das eher akzeptieren“.

„…, weil es sie zu viel Mühe kostet.“

Als Student hat man bekanntlich nicht viel Geld und deshalb überrascht es umso mehr, dass die Universität, neben öffentlichen Plätzen in der Innenstadt, zu einem rentablen Ort für Flaschensammler geworden ist. Ist es wirklich nur Bequemlichkeit oder gar Faulheit, die Pfandflaschen einfach auf den Tischen stehen zu lassen? Für André ist es eine nette Geste. So bleibt ihm die unangenehme Aufgabe erspart, in Mülleimern zu greifen. Seiner Meinung nach ist es die Bequemlichkeit der Studenten, von der er nun profitiert. Manchmal bekommt er sogar eine Flasche geschenkt, erzählt er mit einem Lächeln. Doch ist es nicht bedenklich, wenn Studenten in Mengen ihre Flaschen überall liegen lassen? Schließlich handelt es sich doch um Geld, selbst wenn es nur 25 Cent sind. Dabei heißt es doch so schön „Kleinvieh macht auch Mist“ und tatsächlich: Sammelt man einen Nachmittag Flaschen an der Universität, so kann die Summe nach fünf bis sechs Stunden sieben bis zehn Euro betragen. An besonderen Tagen, an denen Veranstaltungen wie die Jobmesse stattfinden, ist es dementsprechend mehr. Da kann mitunter auch mal ein ganzer Kasten mit Wasser- oder Bierflaschen dabei sein.

Pfand geben

Als schneller Rechner stellt man nun fest: Diese Summe ist um einiges geringer als das, was man in einer Stunde als studentische Aushilfskraft in einem Geschäft, beim Kellnern oder im Büro verdient. Dennoch ist es Geld, das sich, egal wie gering der Betrag, summiert. Sind wir als Studenten also zu verwöhnt und ignorant, um diese Summen wertzuschätzen? Gerade in Anbetracht der gegenwärtigen sozialen und demographischen Umbrüche, in denen immer mehr Menschen von Armut, insbesondere Altersarmut, betroffen sind, ist es wichtig, mit dem Geld nicht zu leichtfertig umzugehen.

Natürlich spricht nichts dagegen, andere Menschen zu unterstützen und seine Flaschen an Flaschensammler weiterzugeben. Ein Berliner Student hat daraus ein Semesterprojekt gemacht. Pfandgeben.de ist ein Projekt, das aus einer Website und einem Netzwerk aus Flaschenspendern und -sammlern besteht. Über die Website können Spender Adressen hinterlassen, an denen sie ihre Pfandflaschen sammeln. Diese sind den Flaschensammlern zugänglich, um die Flaschen dort abzuholen. Das Projekt erfreut sich in Berlin großer Beliebtheit. Eine schöne Idee, die sicherlich auch in anderen Städten Deutschlands Zuspruch finden würde.

„… für jeden Studenten die eigene Entscheidung.“

Letztendlich ist und bleibt es die Entscheidung eines jeden Einzelnen, ob er sich die Mühe macht, seine Flasche in den Automaten zu schieben oder sie doch lieber auf dem Tisch stehen lässt. Die Flaschensammler freuen sich mit Sicherheit, denn wer freut sich nicht über „ein schönes Zubrot“? Jedoch wird sich das Flaschensammeln an der Universität sicherlich in den nächsten Jahren verstärken. Damit geht natürlich eine wachsende Konkurrenz einher, doch „solange es sich lohnt und solange ich nicht genug Geld habe, sodass ich das Geld der Flaschen nicht brauche“, werden, so André, auch weiterhin Flaschen gesammelt. Für uns als Studenten bedeutet dies, sich mehr mit der Realität, als mit der Theorie zu befassen. Denn diese ist bekanntlich selten die Praxis. Dabei hilft es nicht zu sagen, „ich habe die Flasche für einen Flaschensammler stehen lassen“, denn das ist selten der Fall. Meistens ist es einfach unsere Faulheit, darüber nachzudenken, was genau mit der Flasche bzw. dem Geld passiert, das wir einfach so liegen lassen und das sich mit der Zeit summiert.

Foto: Raimond Spekking

Als Studenten scheint es uns wirklich so gut zu gehen, dass wir über 25 Cent mehr oder weniger gar nicht mehr nachdenken. Dabei realisieren wir gar nicht, wie schlecht es anderen geht und, ob ungewollt oder beabsichtigt, mag dieses Verhalten für Außenstehende als arrogant und ignorant aufgefasst werden. Darum ist es wichtig, sich nicht nur auf das Hier und Jetzt, sondern auch auf die Zukunft zu konzentrieren. Laut einer Statistik von Die Welt gehören Menschen im Osten Deutschlands, Menschen mit Migrationshintergrund erster Generation, Langzeitarbeitslose und alleinstehende Frauen zu den Personen, die am ehesten von Altersarmut betroffen sind. Vielleicht gehören wir selbst einmal zu einer dieser Kategorien. Sollte dies der Fall sein, dann ist es jetzt unsere Entscheidung, dem entgegenzuwirken und selbst dazu beizutragen, dass das Flaschensammeln sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft nicht zum „Hauptbrot“ wird, sondern lediglich ein temporäres „Zubrot“ bleibt oder, im Idealfall, niemand mehr dazu gezwungen wird, dieser Tätigkeit nachzugehen.

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