Verkehrsstrategien für Morgen
Eine Zukunftsmalerei
Die Verkehrswende muss sozial und pragmatisch von statten gehen, aber vor allen Dingen: Bald. Doch wie kann eine autofreie Welt aussehen, in der Autoliebhaber, Dorfbewohner und systemrelevante Transporte nicht zu kurz kommen?
Von Nathalie Schrader
Es mutet ulkig an, wie Hupkonzerte deutsche Großstädte werktags beschallen und sich die Musiker gegenseitig motivieren, lauter, schneller und aggressiver zu spielen. Ihr Lieblingsinstrument ist durch fast alle sozialen Schichten, Wohnorte und politischen Positionierungen hindurch das Auto. Es ermöglicht luxuriösen Individualverkehr und war zumindest bis zum Beginn der „Fridays for future“ Bewegung im August 2018 das Freiheitssymbol. Luftverschmutzung, Lärm und Raserei – und dennoch steigt die Zahl der PKW-Neuzulassungen kontinuierlich. Im Dezember 2020 waren es zehn Prozent mehr gegenüber dem Vorjahr, so das Kraftfahrbundesamt. Schleichend drängt sich die Vermutung auf, dass der Wunsch nach Bequemlichkeit auch 2021 noch schwerer wiegt als das schlechte Gewissen. In vielen Fällen lässt sich das Automobil im Privatgebrauch nicht ersetzen, denn klimafreundlichere und zugleich günstige Alternativen sind dünn gestreut. Vielen Automobilbesitzern lässt sich kein Vorwurf unterbreiten. Dass eine Verkehrswende unausweichlich ist, dämmert mittlerweile dennoch sogar strengen Verfechtern der Automobilindustrie.
Volksentscheid „Berlin autofrei“
Eine PKW-Begrenzung bietet nicht nur aus umweltpolitischer Sicht Vorteile. Saubere Luft, mehr Spielstraßen, weniger Unfälle. Dieser Geistesblitz traf auch einige Berliner, denen die Pläne des Senats zur Verkehrswende in Berlin zu unkonkret schienen und die deshalb den Volksentscheid „Berlin autofrei“ initiierten. Der entsprechende Gesetzentwurf „Berliner Gesetz für gemeinwohlorientierte Straßennutzung“ ging am 18. Februar 2021 an die Senatsverwaltung für Inneres. Dort schätzt der Senat die Kosten der Umsetzung. Bis es zur Volksabstimmung kommt, vergehen bis zu zwei Monate. Sollten dann mehr als 70 Prozent der wahlberechtigten Berliner zustimmen, wird Berlins Verkehrsstruktur sich grundlegend verändern. Das Gesetz sieht ein Verbot des Individualverkehrs auf einer Fläche von 88 Quadratkilometern um den Stadtkern der Hauptstadt herum vor. Ausgenommen seien die Polizei, Feuerwehr, Rettungswagen, Handwerksbetriebe und mobilitätseingeschränkte Personen. Wer dringend ein Auto benötige, dürfe sich diesen Luxus nach Anfrage auf eine Sondergenehmigung insgesamt zwölf Mal im Jahr gönnen. Allerdings auch nur, wenn die Fahrt mit dem Auto unvermeidbar sei. Verstöße gegen das Gesetz sollen mit bis zu 100.000 Euro Strafe geahndet werden. Diese geplanten Regulierungen werfen Fragen auf: Wann genau sind private Autofahrten unvermeidbar? Wie kann und wird der ÖPNV sich auf die Umbrüche vorbereiten und sein Streckennetz ausbauen, um sich vor Überlastung zu schützen? Welcher Bürger kann ein Bußgeld in der Höhe von 100.000 Euro berappen?
Mir scheint der Volksentscheid zwar nach plausiblen Motiven gedacht, aber für eine tatsächliche Umsetzung zu dogmatisch. Besser wäre eine Bewegung Stück für Stück in Richtung „autofreie Innenstädte“, ohne den Individualverkehr plötzlich fast ausnahmelos zu verbieten.
Mögliche zukünftige Kompromisslösungen
Obligatorisch wäre zunächst eine stärkere Subvention des öffentlichen Nahverkehrs. Streckenausbau und höhere Frequentierung von stark ausgelasteten Haltestellen, grade zur Rush-Hour, sind notwendig. Verspätungen und Überlastungen in Bussen und Bahnen könnten so reduziert werden. Das erfordert Planung, Aufsicht und Fahrer – und schafft somit Arbeitsplätze. Wäre ein Ticket für den Nahverkehr dann eben nur noch so teuer, wie Benzin für dieselbe Strecke, stiegen sicher viele Autonutzer darauf um. Vergleichbar könnte ein günstiger Fernverkehr mit attraktiven Last-Minute-Angeboten gestaltet werden. Für gewisse Reisen in abgelegenere Fleckchen unseres Landes oder unhandliche Transporte, sowie für Polizei, Rettungskräfte, Post und weitere Dienstleistungen im täglichen Bedarf, bliebe der Individualverkehr sicher unentbehrlich. Diese Strecken ließen sich verstärkt mit dem Taxi zurücklegen. Müssten diese weniger für Benzin bezahlen, könnten sie ihre Dienste günstiger anbieten. Autos selbst und deren Sprit hingegen könnten für private Besitzer merklich teurer werden. Das würde dazu führen, dass das Auto ein unrentables Luxusgut wäre und für den Privatgebrauch eines Tages eventuell ganz verschwände. Auf dem Land Lebende könnten finanzielle Boni erhalten, wenn sie für die Fahrten in Innenstädte ein elektrisch betriebenes Auto nutzen. Die Problematik von Staus, Feinstaubbelastung und Lärm besteht ohnehin vor allem in Großstädten.
Fortschritt bedeutet auch, es nicht allen recht machen zu können.
Einige Fragen bleiben auf jeden Fall offen. Diskutabel ist die Rolle des Autos als Luxusgut. Auf der einen Seite steht das Argument, dass Autofahren zu günstig und damit zu einfach ist, um nachhaltig zu sein. Auf der anderen Seite steht das Argument, dass soziale Ungerechtigkeit gefördert würde, wenn das Auto für die meisten nicht mehr rentabel wäre. Das Spagat muss die Politik wagen. Fortschritt bedeutet auch, es nicht allen recht machen zu können.
In so einem Entwurf der Zukunft wäre die Menge der auf deutschen Straßen fahrenden Autos deutlich reduziert, ohne den Individualverkehr für spontane Ausflüge und Transporte stillzulegen. Zweifelsohne ist es eine komplexe Aufgabe, vor der Großstädte wie Berlin, aber auch die Bundesregierung als Vertretung für das ganze Land steht. Lösbar ist diese auf jeden Fall. Verkehrskonzepte wie in Wien, Oslo oder deutsche Stadtteile wie der Bezirk Köln Nippes, wo fast gänzlich auf automobilen Individualverkehr verzichtet wird, beweisen dies. Dort entstehen grüne Parks und sichere Spielstraßen, Radwege florieren und saubere Luft ist für alle da.
Titelbild: Symbolbild