„Wir wollen noch mehr Menschen für den Radverkehr gewinnen“
11 Fragen an Carsten Sieling
Selten zuvor wurde den Bremer und Bremerinnen an einem einzigen Tag so viel politische Verantwortung zuteil, wie es am kommenden Sonntag der Fall sein wird. Zeitgleich mit der omnipräsenten Europawahl, durch die die Weichen für das kommende Europaparlament gestellt wird, findet hier die Bürgerschaftswahl statt. Wir haben im Vorfeld die Kandidaten und Kandidatinnen um ein kurzes Interview gebeten. Unser Augenmerk lag dabei natürlich auf studentischen Belangen und den drängenden Problemen unserer Stadt.
Dieses Mal ist der Bremer Bürgermeister Carsten Sieling von der SPD an der Reihe.
Die Antworten dieser Interview-Reihe spiegeln nicht zwangsläufig die Meinungen der Redaktion wieder.
Herr Sieling, wie wollen Sie dafür sorgen, dass es mehr bezahlbaren Wohnraum für Studierende gibt?
Das geht nur, indem wir bauen, bauen und noch einmal bauen. Allein aktuell haben wir rund 600 Wohnheimplätze für Studierende zusätzlich in der Umsetzung. Erst vor kurzem war ich beim Studierendenwerk und habe mich dort über die Planungen einzelner Projekte informiert. Um Wohnungsnot zu vermeiden, brauchen wir in Bremen neben zusätzlichen Wohnheimplätzen aber insgesamt mehr bezahlbaren Wohnraum. Die SPD setzt sich daher ganz bewusst auch für eine moderate Bebauung des dann für alle öffentlich zugänglichen Rennbahn-Areals mit rund 1.000 Wohnungen ein, um gerade für Auszubildende, Studierende und junge Familien mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Wer das auch will, muss damit beim Volksentscheid mit „Nein“ stimmen!
Wie stehen Sie zu einer Erhöhung des Tarifs für studentischen Hilfskräfte, der in Bremen niedriger ist als etwa in Berlin?
Ich unterstütze das ausdrücklich und habe als Bürgermeister selbst dafür gesorgt, dass studentische Hilfskräfte in Zukunft 11,13 Euro statt 9,19 Euro bekommen.
Gerade Studierende sind gerne mit dem Rad unterwegs. Sollte das Bremer Verkehrsnetz zugunsten von Radfahrern ausgebaut und sicherer gemacht werden?
Bremen ist laut dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) schon heute die fahrradfreundlichste Großstadt Deutschlands. Radfahren hat in Bremen Tradition und besitzt auch unter den deutschen Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnerinnen und Einwohnern den höchsten Radverkehrsanteil – und nicht zuletzt deshalb die niedrigste Stickstoff-Belastung. Wir wollen daher den Radverkehr als umweltfreundliche, gesunde und günstige Verkehrsart unbedingt weiter fördern, ausbauen und sicherer machen, um noch mehr Menschen für den Umstieg zu gewinnen.
Wir wollen noch mehr Menschen für den Umstieg zum Radverkehr gewinnen
Wie stehen Sie zu Volksentscheiden und grundsätzlich zum Mitgestaltungsrecht der Bürger am politischen Geschehen?
Demokratie ist keine Zuschauerveranstaltung, sondern sie hängt davon ab, dass möglichst viele mitmischen – in Bürgerinitiativen, in Elternvertretungen, in Mitbestimmungsgremien und auch in den Beiräten oder der Bürgerschaft. In Bremen haben wir die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sehr früh zu einem Strukturprinzip unserer Stadtgesellschaft gemacht. Unter Einbeziehung vieler Interessierter haben wir ein Leitbild „Partizipation“ entwickelt. Für alle Bürgerinnen und Bürger einsehbar wird gerade eine Vorhabenliste erstellt, die laufend aktualisiert wird und einen Überblick über die Aktivitäten aller Ressorts gibt. Eine klare Kriterienliste legt fest, wann über die gesetzlich vorgeschriebenen Maße hinaus Bürgerbeteiligung erfolgen soll.
In Bildungsstudien wie PISA und IQB belegt Bremen bundesweit regelmäßig den letzten Platz. Wie wollen Sie das Bildungsniveau verbessern?
Mehr Fachkräfte und keine neuen Debatten über Schulformen. Wir haben vor kurzem erst mit allen großen Parteien, mit Ausnahme der FDP, den Schulfrieden1 bis 2028 verlängert. Das ist wichtig, denn Kinder, Eltern aber auch pädagogische Fachkräfte, brauchen Verlässlichkeit. Gerade die frühkindliche Bildung ist von großer Bedeutung, denn es geht auch darum, bestehende Wissensunterschiede schon vor Eintritt in die Schule auszugleichen. Dafür werden wir vor allem die Qualität in den Einrichtungen weiter stärken. Durch das gute Kitagesetz bekommen alle Bundesländer eine finanzielle Unterstützung und Bremen erhält 45 Mio. Euro. Mindestens die Hälfte davon investieren wir in die Steigerung der Qualität und ermöglichen zudem die Kita-Beitragsfreiheit für die 3-6-Jährigen. Auch im Schulbereich haben wir noch viel vor. So bauen wir etwa gerade ein Qualitätsinstitut bei uns auch auf. Als ich Bürgermeister geworden bin, habe ich die Bildungspolitik zu einem zentralen Thema gemacht. Wir haben die Verantwortung für Kindergärten und Schulen 2015 in einem Ressort zusammengelegt, um das Lernen von Beginn an besser und ohne Brüche in den Übergängen organisieren zu können. Seit meinem Amtsantritt haben wir darüber hinaus unseren Bildungsetat deutlich verstärkt, zuletzt noch einmal um 200 Millionen auf gut eine Milliarde Euro. Diesen Weg werden wir weitergehen.
Wie ist Ihre Haltung zur Digitalisierung im Bildungswesen, etwa WLAN an Schulen, interaktive Whiteboards oder Tablets für die Schüler?
Whiteboards, Laptops, Tablets und Tiptoi sowie modernste Lernsoftware bereichern das Lernen. Ich bin froh, dass wir im Vermittlungsausschuss in Berlin Anfang des Jahres erfolgreich waren und der Digitalpakt Schule nun endlich umgesetzt wird. In Bremen werden wir für die kommenden fünf Jahre jährlich 9,6 Millionen Euro zusätzlich für die Digitalisierung der Schulen zur Verfügung haben.
Beim Thema öffentliches WLAN ist Deutschland gegenüber anderen europäischen Staaten im Rückstand. Möchten Sie dafür sorgen, dass es in Bremen mehr WLAN-Hotspots gibt?
Unbedingt. Notwendige Bedingung für digitales Wirtschaften, Arbeiten und Leben sind gute digitale Infrastrukturen. Wir werden diese Infrastrukturen daher überall dort, wo wir über Einfluss verfügen, verbessern und ausbauen. Hierzu zählen auch kostenlose und frei verfügbare WLAN-Spots.
Wollen Sie sich dafür einsetzen, dass das Land Bremen seine Schuldenberg abbaut und wenn ja, an welchen Stellen sollte eingespart werden?
Wir als SPD wollen die neu gewonnenen finanziellen Spielräume ab dem kommenden Jahr dafür nutzen, in die Zukunft Bremens und Bremerhavens zu investieren: für eine bessere Bildung, für kommunalen Wohnungsbau und für mehr Arbeitsplätze. Deshalb ist es falsch, das ganze Geld – immerhin geht es hier um 6 Milliarden Euro – in die Entschuldung zu stecken. Klar ist aber, dass wir die mit dem Bundesfinanzministerium und den anderen Ländern ausgehandelten Zusagen zu einem jährlichen Schuldenabbau in Höhe von durchschnittlich 80 Millionen Euro erfüllen werden und damit, wie in den vergangenen Jahren auch, für solide Finanzen im selbständigen Stadtstaat Bremen sorgen.
Es ist falsch, unser neu gewonnenes Geld in die Entschuldung zu stecken
Sind die Maßnahmen zur Integration von geflüchteten Zuwanderern in Bremen ausreichend und wenn nicht, was muss verbessert werden?
Bremen und Bremerhaven haben viel in Sachen Integration geleistet. Der Prozess eines guten Ankommens in einer neuen Gesellschaft ist langwierig und bedarf auch in Zukunft nachhaltiger Unterstützung. Diese werden wir weiterhin leisten, vor allem mit Blick auf Qualifizierung, Arbeitsmarktintegration, Spracherwerb, unsere Vorkurse und vielfältigen Beratungs- und Hilfsangebote, Gewaltschutz sowie Gesundheitsvorsorge.
Bremen hat auch mit Kriminalität zu kämpfen, so etwa mit der Clan-Kriminalität. Wie gedenken Sie, die innere Sicherheit zu verbessern?
Die in Bremen gefahrene Null-Toleranz-Strategie muss weiterhin strikt umgesetzt werden, damit nicht nur das öffentliche Gehabe ausbleibt, sondern auch kriminelle Handlungen an Attraktivität verlieren, weil das Entdeckungsrisiko endlich von Tätern als zu hoch angesehen wird. Eine Paralleljustiz in der Subkultur und mafiöse Strukturen dürfen nicht geduldet werden. Deshalb setzen wir auf einen durchsetzungsstarken Rechtsstaat und stellen im Bereich Polizei und Justiz mehr Personal ein. Ganz konkret werden wir in Bremen die Zahl unserer Polizistinnen und Polizisten perspektivisch auf 2900 und in Bremerhaven auf mindestens 520 erhöhen.
Die Null-Toleranz-Strategie gegen Clan-Kriminalität muss weiterhin strikt umgesetzt werden
Was ist Ihre Haltung zu Cannabis? Soll es legalisiert werden oder nicht?
Wir sprechen uns für die Entkriminalisierung in diesem Bereich aus. Hier muss es jedoch eine Lösung auf Bundesebene und keine Insellösung nur für Bremen geben.
Dieses Interview führte Florian Fabozzi.
Carsten Sieling wurde am 13. Januar 1959 in Nienburg geboren und ist seit 2015 Bürgermeister der Stadt Bremen. Nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann begann er 1979 ein Studium der Wirtschaftswissenschaften in der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, das er an der Universität Bremen fortführte. 1988 erwarb er einen Abschluss als Diplom-Ökonom. Von 1995 bis 2009 war Sieling Abgeordneter in der Bremer Bürgerschaft, dann wurde er Mitglied des Finanzausschusses des deutschen Bundstages. Im Mai 2015 beerbte Sieling Jens Böhrnsen als Bremer Bürgermeister.