-TABU BRECHEN-

Raus aus dem emotionalen Sumpf

Wiedereinmal sitzen wir im StugenEck. Auf den alten Sofas mit den breiten Lehnen und Blumenmuster, die einen verschlingen, ehe man sich auf sie gesetzt hat. Die Sonne scheint durch die drei großen Fenster. Kein Abend, kein Morgen. Eine rege Zeit dazwischen. Ab und zu kommen Stugist_innen hinein, die wir wieder hinaus beten. Noch immer summt der Kühlschrank seine Melodien, um die selbe frische Weidevollmilch – 3,5 Prozent Fett – und das selbe Glas Erdbeermarmelade zu kühlen.

von Anne-Kathrin Oestmann

Schwarze Jeans, schwarzen Hoody, weiße Sneaker. Auf Socken, die über die Knöchel reichen, sind bunte Asia To-Go Food Boxen mit Stäbchen gestrickt. Ihre goldene Kette glitzert, wie ihr Silberring an der linken Hand. Anna-Lena hat das Poster auf der Toilette gesehen. „Oh wow“ war ihr erster Gedanke. „Warum nicht“ ihr zweiter. Irgendwann hat sie es fallen lassen. Vor ihren Freunden. In der Runde am Tische eines Restaurants. „Ich gehe übrigens zur Therapie“ sagte sie damals. Die Freunde seien total verständnisvoll gewesen. Ihr Mutter auch. Im Gegensatz zu ihren Großeltern, die es absolut nicht verstanden haben, als das Thema irgendwann durchsickerte. Krank? Unsere Enkelin? Was? Warum? Anna-Lena studiert auf Lehramt im neunten Bachelorsemester. Von Dozenten_innen an der Uni habe unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Behauptungen von vorsätzlichen Simulationen, die durch ärztliche Attests bewiesen werden mussten, bis hin zu Akzeptanz und Unterstützung – „wir wollen ja nicht, dass sie mit ne´m Burnout aus dem Studium raus gehen“ hieß es.

Die Eltern haben sich schon früh scheiden lassen. Noch bevor Anna-Lena laufen konnte. Zu ihrem Vater hat sie nur wenig Kontakt. Ihre Mutter – alleinerziehend. Der Großvater, bei dem sie viel Zeit verbrachte, war sehr streng. Eine Zwei in der Schule war nicht gut genug. Wenn die anderen Einsen geschrieben haben, hieß es: „Warum du nicht?“ Eingeprägte Glaubenssätze aus der Kindheit wirken sich heute auf Anna-Lena aus. Durch den Leistungsdruck in der Uni verfällt sie immer wieder in Stresssituationen. „Meine Kommilitonen sind genau so gestresst wie ich, aber sie gehen ganz anders damit um“ sagt sie. Ihr immenser Wille zur Perfektion sei nicht ihr eigener. Die Stimme ihres inneren Kritikers gleiche vielmehr die ihres Großvaters.

Teufelskreislauf und Abwärtsspirale

Der Druck durch Anwesenheitslisten, Prüfungen und Abgaben führen bei Anna-Lena häufig zu depressiven Phasen. Die depressiven Phasen zur Prokrastination. Die Prokrastination zu erhöhten Leistungsdruck. Der erhöhte Leistungsdruck zu depressiven Phasen. Alles begünstige sich gegenseitig. Ein Teufelskreislauf, der in eine Abwärtsspirale mündet. Erst im Laufe des Studiums eskalierte diese Situation. Bis Anna-Lena selber merkte „okay das geht grade in ner Richtung, die ist echt nicht gut dagegen muss ich irgendwas machen“. Oft habe sie daran gedacht, sich zu ritzen. Eine Rasierklinge hatte sie aber noch nie in der Hand. Stattdessen entschied sie sich dafür sich helfen zu lassen. Nach drei Terminen bei der Psychologischen Beratungsstelle an der Uni hat sie ein paar Nummern bekommen. Jede einzelne telefonierte sie ab. Drei Monate später – die erste Therapiesitzung. „Die ersten paar Male war ich noch so ein kleines bisschen skeptisch, aber mittlerweile ist das ein ganz anderes Verhältnis“ sagt sie. Die Professionistin wurde zur coolen Tante.

Anna-Lena ist ein extrovertierter Type Mensch. Steht zu sich und den Problemen, die sie hat. „Wenn ich anders wäre und auch nicht so offen drüber reden könnte, dann würde es mir auch wesentlich schlechter gehen“. Davon ist sie überzeugt. Vielleicht wäre sie dann jetzt nicht mehr da. Würde mir nicht gegenüber auf den alten Sofa mit breiten Lehnen und Blumenmuster sitzen. Nicht davon erzählen. „Schwieriges Thema, aber ja“ sagt sie. Was Anna-Lena meint ist Suizid

Ein zweiter Versuch

Nach den ersten 52 Stunden Lebensinnieren hätte die Therapie abgeschlossen sein können. Mal läuft´s, mal läuft´s nicht. Wenn nicht, dann schottet sie sich ab und igelt sich ein. Aber „aus therapiert“ sei man nie. Denn die meisten Menschen mit psychischen Problemen haben ihr ganzes Leben damit zu tun. Vor dem zweiten Versuch hat Anna-Lena gedacht, dass sie verloren hätte. Zwei Monate lang haderte sie mit ihren Gedanken, bei der coolen Tante anzurufen. „Mir geht’s jetzt nur so ein bisschen schlecht und vielleicht nehm ich jemanden den Therapieplatz weg, dem es wesentlich schlechter geht“ sagt Anna-Lena. Bis sie wieder die Papiere für die Krankenkasse mit einem unangenehmen Gefühl ausfüllte. Standardisierte Formalien für den Aktenfundus der deutschen Bürokratie. Eine Therapie sei dazu da Gedanken und Gefühle, die man nicht versteht, verstehen zu können. Nur für die Versicherung muss man das „Warum“ schon vorher wissen, um das tatsächliche „Warum“ heraus finden zu können.

„Ziel der Therapie ist es einen inneren Reflexionsraum im Gehirn zu schaffen“ sagt Anna-Lena. Dabei lerne man das eigene Verhalten zu beobachten, um zu verstehen warum man was macht. Seit dem her fällt es ihr leichter mit dem Uni-Stress umzugehen. Den Begriff Produktivität habe sie vollends aus ihrem Wortschatz gestrichen. Häufig stelle sie sich in schwierigen Situation selbst die Frage, was das Schlimmste sei, das passieren könnte – wenn keiner drauf geht, ist es dann doch nicht so dramatisch, wie gedacht. Gedanken rationalisieren und in Relation setzten – das hilft ihr. Sie entwickelte ein Mehr an Verständnis für sich selbst und achtet auch im Alltag auf sich. „Okay die anderen gehen jetzt feiern und du bist gerade nicht in einer Position, in der du das gut machen könntest, deswegen entspannst du dich jetzt lieber. Guckst ein Film, kochst dir was Schönes“ sagt sie. „So ein bisschen Self-Care“ und lacht. Eine Diagnose ist ihr nicht wichtig. Mit dem Wort Depression werde viel zu schnell um sich geworfen.

„Die ganze Zeit richtig fertig“

Negativer Self-Talk – „es ist ein bisschen so, wie wenn jemand die ganze Zeit hinter dir her läuft und aufzeigt, was man falsch macht und wie kacke du bist. Irgendwann fängt man an, das selber zu glauben“ sagt Anna-Lena. So rutscht sie in ihre depressiven Phasen. Immer wieder. Bis sie nichts mehr Positives sieht. Jeder gute Gedanke wird dementiert und alles Negative fokussiert. Mal dauerte eine Phase Wochen an. Mittlerweile sind es nur noch Tage, die sie zählen kann. Anna-Lena bekommt in solchen Nächten kein Auge zu. Wenn die Sonne auf geht, fesselt sie die Erschöpfung ans Bett. „Wenn ich in einer depressiven Verstimmung drinne hänge, merke ich das körperlich ganz ganz doll“ sagt sie. Vergleichen tut sie dieses Gefühl mit dem eines gelaufenen Marathons. „Man ist die ganze Zeit richtig fertig.“ Hinzu kommt der immense Druck auf ihrer Brust. Wie ein Gewicht, das ihren Corpus zerquetscht. Wenn sie eine Panikattacke hat, drängt diese Anna-Lena an dem Rande ihrer Sterblichkeit. Ihr Herz schlägt so stark, dass sie glaubt, es würde für immer aussetzten. Dann kämpft sie mit den Gedanken, sich selbst zu verletzen. „In solchen Situationen, hatte ich das Gefühl ich muss jetzt hier irgendwie die Brust öffnen, weil da dieser Druck drin ist, damit er raus kann“ sagt Anna-Lena.

Kein Schlaf in der Nacht, keine Kraft am Tag. Von der Matratze hoch zu kommen – kaum möglich. „Ich wollte mich gar nicht mehr um mich selbst kümmern“ sagt sie. Tagelang nicht geduscht, nur rum gelegen, kaum oder nichts gegessen, genauso viel getrunken. „Ich habe dann in der Zeit die Basic-Needs mir selber versagt – das war echt hart“ sagt sie. Eine unterbewusst beeinflusste Entscheidung. Anna-Lena habe geglaubt, dass sie es nicht verdienen würde. Immer wieder guckt sie nachdenklich zur Decke des Raumes. Bricht Sätze ab, fängt Sätze an. „Es ist dann so – Ähm – Es ist ganz schwierig so was zu beschreiben – Also man – Es ist halt – Ich würde fast sagen – Es ist ganz schwierig es jemanden zu erklären, der es nicht nachvollziehen kann, wie zum Beispiel wenn Leute magersüchtig sind „Dann iss doch einfach was“ – Es ist schwierig zu erklären“ sagt sie.

Für sich selber kämpfen

„Die Therapie hat mir schon enorm viel weiter geholfen“ sagt Anna-Lena. Im emotionalen Sumpf sei sie fähig, sich von sich selbst zu distanzieren, das große Ganze nüchtern zu betrachten und zu reflektieren. „Man fängt mehr wieder an, für sich selber zu kämpfen“ sagt sie. Und auch wenn die Therapie kein Allheilmittel sei, diene sie doch für einen besseren Umgang mit schwierigen Situationen. „Oh mein Gott. Das ist das schwerste und härteste Stück Arbeit, was ich in meinem Leben jemals geleistet habe. Es ist so anstrengend da hin zu gehen, sich die ganze Zeit mit sich selbst zu beschäftigen. Du denkst so viel nach. Du musst deine eigenen Schlüsse ziehen. Du musst dann aus der emotionalen Perspektive heraustreten und analytischer denken. Wenn einem das schwer fällt, ist das ultra anstrengend. Hinterher bin ich platt. Ich kann nicht mehr“ sagt sie.

Für Anna-Lena gab es den einen Punkt in ihrem Leben, an dem sie bereit war, eine Therapie zu beginnen, um an ihren Problemen zu arbeiten. „Es hätte mir nichts gebracht, wenn ich ein Jahr eher mit der Therapie angefangen hätte, weil ich da im Kopf noch nicht so weit war, dass ich da hätte dran arbeiten können. Deswegen würde ich grundsätzlich sagen, dass wenn man an einem Punkt ist, an dem man offen genug ist, sich selber gegenüber da dran arbeiten zu können, dann sollte man es in Angriff nehmen. Wenn man aber noch nicht bereit dazu ist oder man nur von Außen hört, dann würde es auch nichts bringen. Jeder macht das so in seiner eigenen Geschwindigkeit und zur rechten Zeit und das fügt sich dann alles. Wenn der Leidensdruck und eigener Antrieb da ist, sollte man sich auf jeden Fall trauen.”

 

 

Wenn Ihr Hilfe benötigt, wendet Euch an die Psychologische Beratungsstelle der Universität Bremen unter: (0421) 22 01 – 1 13 10  pbs@stw-bremen.de  oder bei der TelefonSeelsorge Bremen unter:

0800 – 111 – 0 – 111 

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