Das ScheinWerfer Weihnachts-Special #1

Eine Reihe zum kurzen Innehalten in der stressigen Weihnachtszeit.

Mit anregenden Veranstaltungstipps und spannenden Beiträgen zur Weihnachtszeit, möchten wir euch diese Zeit des Jahres versüßen, euch auf andere Gedanken bringen und vergessen lassen, welchen sich alljährlich wiederholenden Stress diese Fest mitbringt.

Von Ulrike Bausch

Grotesk-komische Bildwelten in der Weserburg: Die Sammlung Ivo Wessel

Eine ganz normale Alltagssituation: Menschen quetschen sind aneinander vorbei durch ein überfülltes Zugabteil. Aber Moment mal. Kommen mir die Personen nicht seltsam bekannt vor? Ist das nicht Johnny Depp, dort drüben nicht Amy Winehouse, und dort sitzt Karl Lagerfeld? Zwischendrin schwer bewaffnete Polizisten, ein Zombie in Adidas-Sportkleidung, aber auch ganz normal wirkende Leute. Allesamt tragen sie Coffee-to-go-Becher und ungewöhnliche Gepäckstücke: Reisigruten, eine geräucherte Wurst, ein Autoersatzteil. Zu sehen ist diese skurrile Szene in Stefans Panhans Video „Sorry“, ausgestellt in der Weserburg – Museum für moderne Kunst. Heute eröffnet die Ausstellung

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Stefan Panhans, Sorry, 2010 (Videostill), Sammlung Ivo Wessel

„Der Raum zwischen den Personen kann die Decke tragen“, die die Privatsammlung des in Berlin lebenden Softwareentwicklers Ivo Wessel zeigt.

Thematischer Ausgangspunkt von Stefan Panhans Foto- und Videoarbeiten sind häufig Identitätskrisen sowie Mode und Lifestyle als identitätsstiftende Begleiterscheinungen in unserer Waren- und Konsumwelt. Mit großer Detailverliebtheit spürt er das Gebaren unserer Selbststilisierung und –inszenierung auf. Die Protagonisten in seinem Video „Sorry“ eifern mit ihren Kostümierungen und Maskierungen Vorbildern aus den Medien nach. Ob Mode und Lifestyle den identitätsstiftenden Anspruch gerecht werden können, bleibt offen. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen in unserer hochkommerzialisierten Welt Identitätsbildung möglich ist.

Das Sammlerprofil Ivo Wessel

Das Video „Sorry“ bildet im ersten Ausstellungsraum den Auftakt der Ausstellung. Bereits zum dritten Mal präsentiert die Weserburg eine „Junge Sammlung“ – eine Privatsammlung, die bisher in dieser Form noch nicht öffentlich zu sehen war. Die Leidenschaften des Sammlers sowie deren Verschränkungen zeichnen sich in der Ausstellung mehr oder weniger stark ab: Kunst, Literatur und Film. Wessels Faible für Videokunst manifestiert sich im Filmraum, der in die Ausstellung integriert ist. Auf einem iPad kann aus rund 30 Videos ein Video individuell ausgewählt werden. Einige seiner gesammelten Videoarbeiten präsentiert Ivo Wessel außerdem am 16. Dezember im Kommunalkino City 46.

Gescheiterte Schicksale

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Der Sammler Ivo Wessel mit Werken von Via Lewandowsky, Bild: Via Lewandowsky

Ivo Wessel verdient sein Geld als iOS-Softwareentwickler. Sein Sammeltrieb erfolgt aus reiner Leidenschaft. In den letzten Jahrzehnten hat der 50-Jährige eine bemerkenswerte Kunstsammlung zusammengetragen, die zwischen Medienkunst und konkreter Malerei changiert. Grotesk-komische Elemente, minimalistische Konzepte und bildhafte Erzählungen tauchen immer wieder auf. Viele Werke zeugen vom individuellen Scheitern und dem Scheitern der Wissenschaft. So erzählt beispielsweise Sven Johne in seiner Fotoserie „Vinta“ von einem Vogelforscher namens Walter Banzhaven, der Anfang des letztens Jahrhunderts herausfinden wollte, ob die Zugvögel des Ostseeraums nun europäische oder nordafrikanische Vögel sind. Der Eingriff des Forschers in das Leben der Vögel hatte allerdings zur Folge, dass die meisten seiner Versuchstiere starben. Die fatalen Folgen seines Forschungsinteresses ließen ihn sein Projekt abbrechen. Dass diese Geschichte frei erfunden ist, spielt beim Betrachten keine Rolle. Es geht um die Imaginationskraft und die Emotionen, die beim Anblick der gescheiterten Schicksale erzeugt werden, nicht um historische Realitäten. Anders verhält es sich bei der Installation „Last Call (Komarov-Gedächtnisraum)“. Ein reales Ereignis ist Grundlage für diese Arbeit von Ivo Wessels Lieblingskünstler Via Lewandowsky. Eine auf dem Boden offenstehende Holzkiste erzählt – mit ihren darin befindlichen, verbrannten Alltagsutensilien wie einer Zahnbürste – die tragische Geschichte des Kosmonauten Komarov. Wladimir Michailowitsch Komarow umkreiste 1967 mehrmals die Erdkugel mit einem Raumschiff. Er war der erste Mensch, der bei einer Weltraummission ums Leben kam, verursacht durch einen technischen Defekt. Aus einem alten DDR Radio ertönen die letzten Minuten des Funkverkehrs zwischen Komarov und der Bodenstation. Seine Kollegen versuchten ihn im Angesicht seines unausweichlichen Todes aufzuheitern. Irgendwann verstummen die Stimmen. Komarov verglühte mit seinem Raumschiff bei Eintritt in die Erdatmosphäre. Neben all dem grotesken Witz in der Ausstellung gibt es eben auch bedrückende Momente, die nachdenklich und melancholisch machen. Lewandowsky zeigt mit diesem Werk gleichsam die Endlichkeit des Menschen und die Grenzen des menschlichen Forschungsdrangs.

Die Werke in Ivo Wessels Sammlung bieten viele Anknüpfungspunkte, auch für Leute, die sonst nicht in das Museum auf der Weserinsel gehen. Gegenwartskunst mag bisweilen viele Menschen abschrecken, doch ist es diese Ausstellung wert, dieses Vorurteil zu überdenken. Im Gegenzug werden überraschend zutreffende Einblicke in unsere Gegenwart mit all seinen gesellschaftlichen Spannungen geboten.

Junge Sammlungen 03 – »Der Raum zwischen den Personen kann die Decke tragen« | Sammlung Ivo Wessel
Die Ausstellungseröffnung ist am 4.12.2015 um 19 Uhr. Der Eintritt ist frei. Der Sammler Ivo Wessel wird anwesend sein.
Weserburg | Museum für moderne Kunst Teerhof 20 28199 Bremen

 

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