Das Nest verlassen und Fliegen lernen

Teil 3: Fleischfasern und Leitungswasser

Seit Monaten suche ich schon nach einem neuen Zuhause. Doch die Traumvorstellung von einer zentralen Altbauwohnung mit meterhohen, stuckverzierten Decken, Fenstern, die nach Süden gerichtet sind, mit mindestens 15 Quadratmetern Echtholzdielen und einer kleinen gemischten Gruppe von kreativen Menschen Anfang 20 bleibt anscheinend in den vier Wänden meines utopischen Gedächtnis. Fakt ist – Altbauwohnungen sind rar und begehrt. Jede Pushnachricht von „WG-Gesucht“ wird mit Gier geöffnet und die nächstbesten Gelegenheiten ergriffen, um hoffentlich einen „Casting-Platz“ zu ergattern – ob das dann auch etwas ist und wird, steht in den Sternen. Ich könnte behaupten, dass das WG-Besichtigen ein neues Hobby von mir geworden ist.

von Anne-Kathrin Oestmann

Bei der dritten WG handelte es sich um eine Neugründung in der Neustadt. Eine 19-jährige HFK Studentin suchte zwei neue Mitbewohner_innen. Es kam mir vor wie ein Projekt: alles wird neu aufgebaut, ohne eingefleischte Strukturen. Der Grundriss der Wohnung war schmal geschnitten, mit einem kurzen Flur, bei dem der eine Abschnitt zu einer Küche umfunktioniert wurde. Noch einen Esstisch mit einzubauen, wäre schwierig gewesen, da der Raum viel zu schmal und die Wände mit drei Türen gespickt waren.

Das freie Zimmer ist zwar groß genug gewesen, mit wunderschönem Stuck verziert und hatte sogar einen eigenen, kleinen Balkon. Der Hinterhof auf dem man vom Balkon aus blickte, glich jedoch einer Baustelle – das Einzige, was noch fehlte, war ein Warnschild: „Unbefugten ist das Betreten verboten“. Der Haufen Schutt, welcher später einmal die rosige Zukunft eines Gartens haben soll, wurde von Hauswänden eingekesselt, welche doppelt so hoch waren, wie das kleine Reihenhaus selbst. Der Ausblick wurde somit von Beton gefesselt – ein dunkles, depressiv verstimmtes Loch entstand. Die Stromrechnungen würden selbst im Sommer explodieren, da zu jeder Zeit ein Licht brennen müsste. Denn Sonnenstrahlen würden niemals durch die Fenster eintauchen.

Gemeinsam gingen wir in ihr Zimmer rüber. Das Größte von allen, mit einem geschlossenen Wintergarten, dessen riesigen Glasscheiben man mit viel Kraft aufschieben kann. Der kleine Garten wurde als Atelier genutzt. Rechts stand ein Regal, davor eine Staffelei, auf der eine eingeschweißte Leinwand angelehnt war. Ein gruseliges Bild bot die Schaufensterpuppe, welche leblos und erstart neben einem wackeligen Stuhl platziert wurde. Stuhl und Puppe – beides gratis von der Straße aufgegriffen. Ihr Zimmer war ein einziges Chaos, in dem ich mich wohl fühlte. Am Fußende des Bettes wurden Pfandflaschen gesammelt, der Holzschrank war riesig, aber trotz allem quollen Sachen aus den Schubladen heraus. Der Schreibtisch war aus altem Mahagoni. Auf ihm stapelte sich Kleinkram, wie Münzen, Pinsel oder Schlüssel. Die Möbel hatte sie durch viel Überredungskunst ihrer Mutter abgeschwatzt.

Ihre Familie stammt aus Hamburg. Eine Großstadt, in der man auch mit dem Tagesticket der U-Bahnen zusätzlich auf den Fähren über die Elbe mitfahren kann – ein Insider der Hamburger_innen, welchen die meisten Touris aber nicht kennen. Wir tranken Leitungswasser und sprachen gemeinsam über Kunst. Sie zeigte mir ihre Mappe, die sie unter ihr Bett verfrachtet hat und mit deren Arbeiten sie an der HFK angenommen wurde. Mehrere Aquarellillustrationen von menschlichen Körpern mit Tierköpfen und fotografischen Nahaufnahmen von rohen Fleischstücken, wobei die Fasern der Muskeln fokussiert wurden. Als ich die Bilder sah lief mir ein kühler Schauer über den Rücken – sie waren absurd, ekelerregend, aber zugleich auch – interessant. Das meist verwendete Adjektiv in der Kunstwissenschaft, wenn man etwas unbeschreibliches beschreiben möchte: Es ist interessant. Oder aber auch: Es ist interessant und spannend.
Ihre Mutter arbeitet als Grafikdesignerin und ihr Vater legt als DJ in Clubs an der Reeperbahn auf. Was sie mit ihrem Studium vor hat, weiß sie noch nicht – aber wer weiß das schon. Vielleicht werde ich Taxifahrerin.

Bild: Anne-Kathrin Oestmann

Teil 1: Das Minenfeld | Teil 2: Gemischter Salat aus der Tonne | Teil 3: Fleischfasern und Leitungswasser

 

Das könnte dich auch interessieren

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *