Der bravouröse Bernhard – Kapitel 4

Eine Fortsetzungsgeschichte

von Florian Fabozzi

„Was hast du mit Josh gemacht?“, schreit Tanne hysterisch, während der unbekannte Mann, den sie für den bravourösen Bernhard hält, auf das Gaspedal drückt und auf die Hauptstraße auffährt. „Was ist das für ein krankes Spiel?“ Tanne schießen zahllose Fragen durch den Kopf, doch die Frage nach ihrem Ex-Freund, dem immer noch ihr Herz gehört, ist die dringlichste.
„Deinem Freund geht es gut“, antwortet der Mann in einem süffisanten Tonfall, „und das bleibt auch so, wenn du kooperierst.“ Vor Angst gelähmt, versinkt Tanne in ihren Sitz, Schweißtropfen stoßen ihr aus allen Poren. Im Tannenkostüm ist es ihr längst zu warm geworden, doch zum Entkleiden bietet ihr das Auto nicht genügend Platz.
„Ich… ich… weiß nicht was Sie vorhaben, doch bitte tun sie ihm nichts.“
„Es liegt in deiner Hand“, antwortet der Mann prompt. Dann klingelt sein Telefon. ‘Rigoletto’ von Giuseppe Verdi. Tanne kann sich selbst nicht erklären, warum sie das erkannte. Mit dem langsamen und sanftmütigen Sprachduktus eines Vaters, der seinem Kind aus Grimms Märchenbuch vorliest, spricht der Mann ins Telefon, das er sich zwischen Ohr und rechter Schulter eingeklemmt hat, während er mit der linken Hand das Lenkrad hält. Sie versteht nicht, was vor sich geht, er spricht Spanisch oder Italienisch, Tanne kann es nicht benennen.
„Si, ho trovato il abete. Lei è qua. Apparecchiate la tavola.“
Tannes Blick wandert derweil zum Rücksitz, in dem das Kind gerade an einer Mandarine pult, die es in seiner Jackentasche herumgetragen haben musste. Auch wenn es mit seinen runden Murmelaugen noch so unschuldig aussehen mochte, gruselt sich Tanne vor dem Mädchen. Sie ist überall und nirgendwo. In einem Moment geht sie im Zug herum, um einen Atemzug später an dem Bahnsteig zu stehen. Tanne überkommen Schwindelgefühle, als sie die vergangenen Stunden Revue passieren lässt. Sie kneift sich fest in den Hals, in der Hoffnung, sie würde aus diesem Albtraum erwachen. Vergeblich.
„Mandarine?“ Das Kind hält ihr die Frucht entgegen.
„Na-nein“ stammelt Tanne.
„Oh, keine Sorge tesoro, Signora Baum wird heute noch auf ihre Kosten kommen“, funkt der Mann dazwischen.

Auf einem Schotterweg an einem Waldrand kommt der Wagen zum Stehen. Tanne hatte während der Fahrt versucht, sich in Gedanken auszumalen, wie es Josh ging und in was sie beide hier überhaupt hineingeraten waren. Dabei hatte sie vollkommen das Zeitgefühl verloren. 30, vielleicht 35 Minuten werden sie höchstens gefahren sein, doch im Vergleich zur lebendigen Metropole Köln erschien dieser Ort wie ein anderer Planet. Bei der Anzahl an Bäumen könnte sie in ihrem Aufzug unauffällig untertauchen, sagt sie zu sich selbst. Humor war schon immer ihre Beruhigungsstrategie.
„Wir sind da“, frohlockt der Mann, der seinen Hut längst abgenommen hatte und dessen lichtes Haupthaar, von der Innenleuchte des Autos bestrahlt, gelblich wirkt. Ein Mann mit markanten Schnurrbart und zerknautschtem Gesicht öffnet Tanne die Tür und geleitet sie nach draußen. Der vermeintliche Bernhard schreitet mit dem Kind voran in Richtung einer rustikalen Behausung. Einen Meter hinter ihnen stapfen Tanne und das Knautschgesicht, das sich inzwischen bei ihr eingehakt hatte. Tanne ist es unangenehm, doch sie protestiert nicht. Auf einem ovalen Schild, das über die Eingangstür angebracht ist, prangt der Schriftzug „Don Alfredo“.

„Schuhe abputzen“, mahnt der Mann mit dem Hut und betritt einen großen Saal, der sich schnell als Restaurant entpuppt. Tanne war zuvor im Kopf viele Varianten durchgegangen, wo man sie nun hinführen würde. Doch mit einem Restaurant hatte sie am allerwenigsten gerechnet, was ihren Argwohn allerdings noch mehr bekräftigt. Drei Reihen mit runden Tischen erstrecken sich quer durch den Saal, allesamt bedeckt mit roten Decken und Adventsgestecken. Fast alle Tische sind besetzt, an einigen hatte man einen fünften Stuhl hineingequetscht. Rege Unterhaltungen und herzhaftes Lachen von allen Richtungen sorgen für einen Lautstärkepegel, der sich mit dem der Stuttgarter Bahnhofshalle, durch die Tanne am Nachmittag noch durchgehetzt war, messen konnte.
“Vincenzo führt dich zu dem Damentisch. Dort kannst du sicher eine Kleinigkeit zu Essen abgreifen und die Gastfreundschaft meiner Familie genießen”, beteuert der Hut-Mann. Seiner Familie? Tanne bekommt ein flaues Gefühl im Magen. Sie hatte solche Szenerien schon in Filmen gesehen. Aller Voraussicht nach ist sie in die Fänge einer Mafiaverbindung geraten.
Tanne versucht es noch einmal: “Ist Josh hier irgendwo?”, fragt sie Vincenzo, das Knautschgesicht, das sie an ihren Platz führt. Dieser würdigt ihr jedoch keines Blickes und brummt nur etwas Unverständliches vor sich hin. Sie gehen knapp zehn Meter in Richtung des linken Saalflügels, bis sie an den für Tanne offenbar vorgesehenen Platz angekommen sind. Tanne nimmt einen seltsamen Geruch wahr, eine Mischung aus Nikotin, Oregano und frischen Tomaten.

Mit einem spöttischen und herablassenden Blick mustern sie die anderen drei Damen am Tisch. Sie tragen kastanienbraune, hochtoupierte Haare, welche ihnen, wie Tanne findet, gut stehen. Sie selber muss es sich mit ihrem höchst unpraktischen Kostüm auf zwei Stühlen bequem machen. Was für ein Schmierentheater, denkt sich Tanne. Sollte sie jetzt gute Miene zum bösen Spiel machen und mit den Damen den neuesten Gossip aus der Promiwelt diskutieren? Tanne will dieses unfreiwillige Dinner einfach nur durchstehen. Die prall gefüllte Calzone, die auf einem bronzenen Tablett vor ihr steht, rührt sie nicht an. Sie empfindet zwar Hunger, aber keinen Appetit. Auch von dem Weißwein nippt sie nur ein paar Mal. Die Frauen beziehen Tanne nicht in ihre Unterhaltungen ein, die ohnehin auf einer Art “ditalienisch” stattfinden. Stattdessen muss Tanne Herrenwitze vom Nachbartisch über sich ergehen lassen, an dem sechs Männer ausgelassen Karten spielen und Zigarren rauchen.

“Hey Christbaum, dich würd’ ich mal gern mit meinem weißen Lametta schmücken”, ruft ihr einer der Männer entgegen. Ein freudiges Grölen bricht aus. Nur einer der Herren bleibt stumm, vielleicht hat er den anzüglichen Spruch nicht verstanden.
Die Minuten fühlen sich wie Stunden an. Auch eine dreiköpfige Band, die nach einer Weile den Bühnenbereich im rechten Saalflügel betritt und Lounge-Musik zum Besten gibt, kann daran nicht das Geringste ändern.

 

“Komm mit!”, Der vermeintliche Bernhard hat seinen Hut wieder aufgesetzt und obendrein eine ernste Miene. Tanne folgt der Anweisung – was hat sie schon für eine Wahl, Vincenzo folgt ihr wie ein Kettenhund – und begibt sich mit dem Hut-Mann in einen der Hinterräume. Vom Hochglanz des Innensaals ist hier nichts mehr zu bemerken. Der kleine Büroraum, in den Tanne geführt wird, ist sauber, aber auch kalt, dunkel und beengt. Tanne nimmt auf einen Lederstuhl Platz. 

“Du willst sicher endlich wissen, was wir von dir möchten.”

Wie kommen Sie denn darauf?, schießt es Tanne durch den Kopf, doch sie behält den Sarkasmus für sich.
“Erstmal würde ich gerne wissen, wer ihr seid!” faucht Tanne. Der Mann nickt stumm und greift sich an den Anzug. Aus der Brusttasche fingert er ein Foto, auf dem ein junger Mann mit gelockten, schwarzen Haaren und strengem Gesicht zu sehen ist.
“Kennst du diesen Mann?”
In Tanne arbeitet es. Die Person auf dem Foto kommt ihr durchaus bekannt vor, doch sie hält dieses Gefühl für eine Täuschung.
“Nein”, antwortet sie lakonisch.
Der Mann mit dem Hut schnauft kurz und legte anschließend seinen Finger auf die Frisur des fotografierten Mannes, sodass nur noch sein Gesicht zu erkennen ist.
“Wie ist es jetzt?”
Tanne schaut genau hin. Dann stockt ihr der Atem. Sie reibt sich noch mal die Augen und fokussiert ihren Blick, doch es bestehen keine Zweifel.

“Karim”, flüstert Tanne.
“Unter diesem Namen kennst du ihn”, erwidert der Mann mit dem Hut.
Mit halb-offenem Mund starrt Tanne den Mann an. Die Verwirrung steht ihr ins Gesicht geschrieben.
“Dieser Mann ist mein Cousin und ein Capo unseres Clans, den Cosalberi.”
“Ein Capo?”
“In unserer Tradition ist dies ein wichtiger Posten, der nur von Vertrauenspersonen bekleidet werden kann.”
“Posten für was?”
Der Mann übergeht diese Frage, aber Tanne hat bereits verstanden, dass sie, wie vermutet, im Innersten eines Mafia-Clans gelandet war.
“Leider hat er dieses Vertrauen mit Füßen getreten.”
Inzwischen hatten sich hinter Tanne drei großgewachsene Männer mit schwarzen Anzügen postiert, die den Ausgang versperren. Der ohnehin schon enge Raum wurde noch enger und Tanne droht, klaustrophobisch zu werden. Wie immer, wenn sie nervös wird, bekommt sie ein leichtes Muskelzucken im Unterarm. Magnesiummangel.
“Sagt dir der Loomis-Raub von 2012 etwas? So nannten es die Medien.”
Tanne hatte davon gehört. Damals hat eine Gruppe von Kriminellen in Berlin einen Geldtransporter geknackt und 13 Millionen Euro entwendet. Eines Nachts rückte eine Bande vermummter Männer mit einem Lastwagen zur Zentrale von Loomis vor, einem dort ansässigen Geldtransportunternehmen. Mit C4 sprengten sie die Mauern des Gebäudes und rissen zahllose Geldvorräte an sich. Bei der anschließenden Flucht verstreuten sie Nagelsperren auf der Straße, um mögliche Verfolger in Schach zu halten. Eine zweite Gruppe hatte zuvor eines der Waffendepots der lokalen Polizei in die Luft gehen lassen, die daher nur mit großer Verzögerung zum Tatort erschienen. Tanne erinnert sich an all das, es war schließlich groß in den Nachrichten, doch ihr war entgangen, dass es sich um einen Clan namens Cosalberi handelte.
“Die Polizei kam schnell dahinter, dass es Leute von uns waren, doch sie konnten uns nichts nachweisen,” fährt der Mann mit dem Hut fort.
“Sie versuchten uns in Einzelverhören mit Sprüchen wie ‘Nenn uns die Täter, und du kriegst eine geringere Strafe’ aus der Reserve zu locken”, erinnert er sich, “doch natürlich blieben meine Brüder standhaft und hielten sich an die Omertà.”
Der Mann legt eine Redepause ein und Tanne ahnt die nun folgende Pointe.
“Nur einer tat dies nicht. Ausgerechnet ein Capo war es, der zu singen begann. Du nennst diesen Mann Karim, aber sein wahrer Name lautet Bernardo Bravo.”
Stille.
“Der bravouröse Bernhard”, erschloss sich Tanne flüsternd.

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One thought on “Der bravouröse Bernhard – Kapitel 4

  • February 14, 2020 at 21:01
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    wow, das ist ein Twist den ich so nicht erwartet hätte! Nach dem dritten Teil dachte ich es geht eher Richtung Mystery. Die Wendung zum Mafia-Genre kommt unerwartet, ist aber hammer umgesetzt. Gerade bei den Szenen im Restaurant kriegt man richtig Goodfellas-Vibes und sprachlich ist das auch sehr authentisch, mit den ganzen typischen Cosanostra-Ausdrücken. Die Hintergrundstory ist ebenfalls spannend und originell.
    Fun Fact: Ich habe cosalberi tatsächlich mal gegoogelt und bin auf kein Ergebnis gestoßen, aber ich bin dahinter gekommen, dass “cosa alberi” sowas heißt wie “Sache der Bäume”.. also wenn das keine Anspielung auf Tanne ist 😀

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