Der bravouröse Bernhard – Kapitel 6
Eine Fortsetzungsgeschichte
Von Vanessa Paul
Ganz allein steht Tanne jetzt irgendwo jetzt irgendwo mitten im Wald und weiß nicht, was sie tun soll. Die beiden Männer haben sie, nach einer ausdrücklichen Warnung niemandem etwas zu sagen, einfach vor die Tür gesetzt. Kurz darauf hatte das Handy, das Tanne noch immer bei sich trägt, vibriert: „Du hast 24 Stunden“ angefügt war ein Foto von Josh, der gefesselt auf einem schmutzigen Boden lag. Als Tanne das Bild gesehen hatte, war ihr schlecht geworden. Josh hatte noch nie besonders viel Farbe im Gesicht gehabt, aber auf dem Bild war er besonders blass. Zudem hatte er ein blaues Auge und seine Kleidung war dreckig. Eventuell war auch etwas Blut daran, Tanne vermochte es nicht so genau zu sagen. Nachdem sie das Bild gesehen hatte, musste Tanne sich erstmal übergeben. Auch jetzt ging es ihr nicht besser. Sie ist ein Stückchen weiter gegangen, um nicht neben ihrem stinkenden Kotzhaufen zu stehen, doch sie kann nicht ausschließen, dass sie sich vielleicht nochmal übergeben muss. Ihr ist immer noch schlecht. Sie mag sich gar nicht ausmalen, was gerade mit Josh passiert. Ich muss ihm helfen, denkt sie verzweifelt. Aber wie soll sie das anstellen? Tanne spürt, wie sie nervös wird. Zu dumm, dass sie keine Zigarette mehr hat, sie könnte gerade dringend eine gebrauchen. Okay, okay, ich bekomme das hin, versucht Tanne sich Mut zu machen. Alles, was ich tun muss, ist eine Spieluhr zu besorgen. Eine Spieluhr, die bei ihrem Arbeitgeber steht, von dem sie noch nicht mal die Adresse kennt. Eine Spieluhr, von der sie nicht mehr als eine dürftige Beschreibung kennt. Eine Spieluhr von einem ehemaligen Mafiamitglied. Und wenn sie das Ganze nicht schafft, dann wird Josh… Tanne spürt Panik in sich aufsteigen. Ihr Atem beschleunigt sich und sie kann nicht aufhören sich vorzustellen, wie diese Männer Josh nehmen und ihm wehtun.
Plötzlich hört sie ein Auto neben sich. „Steig ein“ wird ihr heute schon zum zweiten Mal zugerufen. Doch statt eines Mannes, ist es diesmal ein junges Mädchen, das sie auffordert in den Wagen zu steigen. Tanne sieht es nicht ein, nochmal in ein fremdes Auto zu steigen, nachdem das erste Mal so katastrophal schiefgelaufen war. Also ignoriert sie das Mädchen und versucht sich schnellstmöglich von dem Auto zu entfernen. Sie hört das Mädchen seufzen. „Steig ein oder weißt du, wie du die Spieluhr besorgen kannst?“ Die Worte lassen Tanne augenblicklich stehen bleiben. „Was?“, fragt sie etwas verwirrt. Wer ist dieses Mädchen und was will es von ihr? „Steig ein!“ Das Mädchen scheint nicht bereit zu sein, Tanne irgendwelche Informationen zu geben. Tanne ringt mit sich. Soll sie es nochmal wagen, in ein fremdes Auto zu steigen? Unsicher dreht sie sich in Richtung Auto um. Das Mädchen, von dem Tanne zwar außer Kopf und Oberkörper nicht viel sehen kann, macht keinen besonders gefährlichen Eindruck, trotz ihrer eher harschen Ausdrucksweise. Vielleicht kann es Tanne tatsächlich helfen? Immerhin scheint es zu wissen, was Tanne machen muss. Zögerlich macht Tanne einen Schritt auf das Auto zu. Was hat sie denn für eine Wahl? Irgendwas muss sie ja tun. Vielleicht ist das jetzt ein Fehler, aber vielleicht ist das Mädchen auch ein Teil der Lösung. Langsam läuft Tanne also das kleine Stück zurück und versucht sich dabei einzureden, dass das erneute Einsteigen in einen fremden Wagen kein riesengroßer Fehler ist.
Die Fahrt verläuft ruhig. Tanne hatte gedacht, dass das Mädchen sich vielleicht vorstellen würde, oder zumindest ausführen würde, was es will, doch es schweigt nur. Nicht einmal das Radio ist an. Die Stille im Auto trägt nicht dazu bei, dass Tanne sich beruhigt. Sie konnte noch nie gut mit Stille umgehen. Die Fahrt vorhin war schon schrecklich gewesen, aber immerhin war es da nicht ganz ruhig.
Als das Mädchen weitere fünf Minuten (Tanne hat die Uhrzeit auf der Anzeige am Radio verfolgt) nichts sagt, beschließt Tanne, dass sie das Gespräch starten muss. „Was willst du von mir?“ und noch während sie die Frage stellt, denkt sie, dass sie das vielleicht viel früher hätte fragen sollen. Wer steigt bei einer fremden Person ins Auto und fragt erst nach einer guten Viertelstunde Fahrt, was die Person eigentlich will? Tanne ist wirklich durch mit dem Tag. Nicht einmal ihr Verstand scheint noch zu funktionieren. Das Mädchen wirft ihr einen kurzen, spöttischen Blick zu, als würde sie dasselbe denken wie Tanne. Eine Antwort gibt sie allerdings nicht. Okay, dann eben nicht. Tanne kann damit leben. Sie braucht kein Gespräch. Nein, wirklich nicht. Das ist total okay. Nicht schlimm, dass niemand etwas sagt. Dass sie in einem völlig fremden Auto auf dem Weg zu Gott-weiß-wohin ist, während Josh wahrscheinlich gerade gefoltert wird. Das ist alles überhaupt gar kein Problem! Tannes Atem beschleunigt sich und sie versucht sich zu beruhigen. Es gelingt ihr nicht wirklich und sie spürt, dass die Luft knapper wird. Okay, beruhig dich, Tanne! Sie versucht, an die Strategien zu denken, die ihr Therapeut ihr damals beigebracht hat, aber sie kann sich an keine erinnern. Verzweifelt versucht sie nach Luft zu schnappen, doch es gelingt ihr nicht. Tanne spürt, wie ihr schwindelig wird. Oh Gott, denkt sie, Oh Gott, ich werde sterben und Josh wird sterben,
weil ich ihm nicht helfen kann.
Von irgendwo weit weg hört Tanne eine Stimme, aber sie kann nicht verstehen, was diese sagt. Auf einmal spürt sie eine Hand auf ihrer. Die Stimme wird langsam deutlicher und irgendwann kann Tanne Worte wahrnehmen. Sie zählt und sagt Tanne, wann sie ein- und ausatmen soll. Tanne konzentriert sich auf die Stimme und versucht ihre Atmung anzupassen. Langsam spürt sie, wie ihre Atmung sich beruhigt. Die Stimme ist jetzt nicht mehr weit weg, sondern ganz nah. Erst jetzt bemerkt Tanne, dass das Auto angehalten hat. Das fremde Mädchen hält ihre Hand und redet beruhigend auf sie ein. Erst als sich Tannes Atmung wieder normalisiert, lässt das Mädchen ihre Hand los. Tanne ist das Ganze unfassbar unangenehm. „Sorry“, sagt sie und traut sich nicht einen Blick nach links zu werfen. „Danke“, schiebt sie noch unsicher hinterher und schaut weiter stur auf ihre Fingernägel. Wider Erwarten erhält Tanne dieses Mal tatsächlich eine Antwort. „Geht es wieder?“ die Stimme ist überraschend sanft. Tanne nickt. Einen kurzen Augenblick lang fühlt es sich so an, als wolle das Mädchen noch etwas sagen, doch dann fährt das Auto wieder los und das kurze Gespräch ist vorbei. Allerdings schaltet das Mädchen das Radio ein, was Tanne erleichtert aufatmen lässt.
Das nächste Mal halten sie erst an, als sie das vermeintliche Ziel erreicht haben. Das Mädchen steigt aus dem Wagen und bedeutet Tanne, es hier nachzutun. Als sie aussteigt, sieht Tanne, dass sie sich vor einem hässlichen, grauen Häuserblock befinden. Die Wände sind verziert von Graffiti und ein unangenehmer Geruch liegt in der Luft. Das Mädchen geht voran und Tanne folgt ihr. Auf dem Weg muss sie mehrmals ein paar Glasscherben ausweichen. Unzählige Treppenstufen später stehen sie schließlich vor einer Wohnungstür. Tanne versucht einen Blick aufs Klingelschild zu erhaschen, doch sie bezweifelt, dass ihre Begleiterin tatsächlich „Müller“ heißt. Zögerlich betritt Tanne die Wohnung und ist positiv überrascht. Anders als erwartet, ist die Wohnung (oder zumindest der Flur) aufgeräumt und sauber. Bevor sie sich den kleinen Flur jedoch genauer angucken kann, wird sie in ein Zimmer gezogen, dass sich als Schlafzimmer herausstellt. Obwohl auch dieses sich als ordentlich und sauber erweist, steckt keine Liebe in der Einrichtung des Zimmers. Außer einem einfachen IKEA-Bett und einem großen, schwarzen Kleiderschrank befinden sich keinerlei Möbelstücke im Zimmer. Die Wände sind grau und nackt, nichts deutet darauf hin, dass hier jemand lebt.
„Ausziehen“ wird Tanne aus ihren Beobachtungen gerissen. Die Stimme des Mädchens ist jetzt nicht mehr so sanft wie im Auto. „Hm?“ fragt Tanne verwirrt.
„Ausziehen“ wiederholt das Mädchen und zeigt diesmal auf das Kostüm, was Tanne noch immer trägt. Umständlich befreit Tanne also ihren Körper aus ihrem, mittlerweile völlig vollgeschwitzten, Kostüm. Es füllt sich ein bisschen befreiend an, als sie es auf den Fußboden wirft. Allerdings spürt sie, dass ihr etwas kalt wird in der dünnen Hose und dem T-Shirt, das sie jetzt noch trägt. Ein musternder Blick trifft sie. Das, was das Mädchen sieht, scheint ihr zu gefallen, denn sie geht zufrieden zu ihrem Kleiderschrank und holt eine schwarze Jeans und einen schwarzen Kapuzenpullover hervor. „Müsste passen“ murmelt sie und reicht Tanne die Klamotten. Einen kurzen Augenblick debattiert Tanne innerlich mit sich selbst, ob sie ihre Hose und das T-Shirt ausziehen soll, oder ob sie einfach die neuen Sachen drüber ziehen soll. Schließlich entscheidet sie sich dafür, ihre alten Sachen schnell auszuziehen. Während sie sich umzieht, spürt sie förmlich, wie sie beobachtet wird. Sie fühlt sich mehr als unwohl.
Als sie schließlich fertig angezogen ist, schaut sie kurz auf. Tatsächlich liegt der Blick des Mädchens direkt auf ihrem. Es nickt zufrieden. „Okay, Schritt 1 geschafft“.
„Schritt 1?“ fragt Tanne verwirrt. Das Mädchen nickt. „Bitte gib mir bloß nicht zu viele Informationen“ sagt Tanne und spürt, wie sie langsam ungeduldig wird. Sie weiß immer noch nicht, was sie hier eigentlich soll und wer dieses Mädchen überhaupt ist. „Schritt 1 zum Einbrechen“. Tanne wartet einen kurzen Augenblick, ob vielleicht noch etwas folgt, aber natürlich nicht. „Einbrechen?“, wiederholt sie also, woraufhin sie ein erneutes Nicken erhält. Verdammt, konnte das Mädchen nicht einmal Klartext reden? Eine Welle des Zornes steigt in ihr auf und einen kurzen Augenblick denkt Tanne darüber nach, einfach aus der Wohnung abzuhauen. Allerdings hat sie keine Ahnung, was sie dann tun soll. Das Mädchen ist ihre beste Chance. Also ruhig bleiben. „Okay, wo soll ich einbrechen?“ Daraufhin verdreht das Mädchen ihre Augen. Richtig, Karim. Wahrscheinlich soll sie bei ihm einbrechen. „Bei Karim?“ Das Mädchen zögert kurz bevor sie erneut nickt. Richtig, denkt Tanne, sie kennt ihn ja wahrscheinlich nur als Bernardo.
„Ich soll da einbrechen?“ Verzweifelt versucht Tanne sich an die Worte zu erinnern. „Aber, ich dachte… ich dachte… Charme und List?“ Wow, sehr wortgewandt Tanne, denkt sie. Das Mädchen mustert sie. „List? Nein! Und Charme?“ Ein spöttisches Lächeln erscheint auf ihren Lippen. „Ich glaube, das funktioniert bei dir nicht!“ Tanne weiß nicht, ob sie beleidigt sein soll oder froh darüber, dass das Mädchen offensichtlich doch noch mehr kann als Nicken. „Oha, so viele Worte auf einmal, ich bin fasziniert.“ Darauf erhält Tanne jedoch keine Antwort. Natürlich nicht. Schmollend verschränkt sie die Arme vor der Brust. Okay, sie kann auch schweigen. Mal sehen, wie das ankommt. Einige Minuten lang passiert gar nichts, bevor das Mädchen schließlich laut aufseufzt und etwas auf Italienisch vor sich hin murmelt. Dummerweise hat Tanne sich im ersten Semester durch einen Französischkurs gequält, statt Italienisch zu lernen und somit versteht sie kein Wort von dem Gemurmel. Es klingt allerdings auch nicht besonders freundlich.
„Was weißt du übers Einbrechen?“ beendet das Mädchen schließlich die Stille und Tanne spürt einen kleinen Triumph darüber, dass sie das kleine Spiel gewonnen hat, in sich aufsteigen.
„Nichts.“ Das Mädchen nickt, als hätte sie mit dieser Antwort gerechnet. „Okay, wir haben nicht viel Zeit“. Der Satz trifft Tanne mitten ins Mark. Wo eben noch ein Triumphgefühl war, fühlt sie sich plötzlich wie der schlechteste Mensch auf Erden. Während Josh leidet, lässt sie sich hier auf dumme, zeitverschwendende Spielchen ein. Trotzdem muss sie eins wissen: „Warum willst du mir helfen?“ Der Blick des Mädchens verfinstert sich. „Ich will ihn dran kriegen.“
„Warum brichst du dann nicht bei ihm ein? Oder irgendjemand von euch.“ Es scheint schließlich so, als würde sie auch dazugehören. „Warum ich? Habt ihr nicht Leute für sowas?“ Tanne versteht einfach nicht, warum sie das Ganze machen soll. Sicherlich muss es bei der Mafia doch jemanden geben, der dafür besser geeignet ist als sie? Sie selbst hat noch nie in ihrem Leben etwas geklaut. Nicht einmal aus Versehen. „Zu gefährlich“, war die knappe Antwort. Und wow, war das nicht beruhigend?
„Okay“, sagt Tanne schließlich, „was ist Schritt 2?“ Die Frage scheint dem Mädchen mehr zu gefallen, denn ihre Gesichtszüge hellen sich auf. „Ich bringe dir bei, wie man einbricht“. Und okay, jetzt, wo sie es sagt, ist es irgendwie offensichtlich. Wie hätte sie ihr auch sonst helfen sollen? „Okay“ stimmt Tanne zu. Das Mädchen setzt sich auf das Bett und bedeutet ihr, es ihr nachzutun. Tanne setzt sich mit ausreichend Sicherheitsabstand auf das Bett und wartet.
„Fünf einfache Regeln“, beginnt das Mädchen zu erzählen und jetzt ist Tanne diejenige, die nickt.
„Erstens: Unauffällige Klamotten“ sie deutet auf die Sachen, die Tanne trägt und nickt zufrieden.
„Zweitens: Niemand darf dich sehen.“ Sie schaut Tanne an und scheint auf eine Bestätigung zu warten, also nickt Tanne erneut. „Drittens: Keine Spuren hinterlassen“. Tanne fragt sich, wie sie das anstellen soll. Hinterlässt man bei einem Einbruch nicht immer Spuren? Irgendwie muss man ja schließlich ins Haus kommen. Doch bevor sie nachfragen kann, redet das Mädchen weiter. Dieses Mal scheint es ihr nicht wichtig zu sein, dass Tanne den Punkt bestätigt. „Viertens: Nicht trödeln! Rein und raus darf nicht länger als zehn Minuten dauern.“ Wieder wartet das Mädchen keine Reaktion ab. „Fünftens: Beute sofort verstauen, damit sie niemand sieht.“ Erwartungsvoll sieht das Mädchen sie an. „Bekommst du das hin?“ Als Tanne nicht reagiert, seufzt das Mädchen. „Okay, komm mit, ich zeige dir ein paar Tricks, wie du unauffällig in ein Haus kommst.“
Ein paar Stunden und einige Erklärungsversuche später fühlt Tanne sich minimal besser. „Mehr Zeit ist nicht“, sagt das Mädchen und als Tanne auf die Uhr sieht, merkt sie, dass von den 24 Stunden mittlerweile nur noch 21 übrig sind. Tanne schluckt. Alleine die Fahrt nach Stuttgart würde gute vier Stunden dauern. Apropos Fahrt. Sie hat weder Geld noch eine Ahnung, wann der nächste Zug kommt. Wie soll sie hier jemals wegkommen? „Ich fahr dich nach Stuttgart“ sagt das Mädchen plötzlich, als hätte es ihre Gedanken gelesen.
Also findet Tanne sich ein paar Augenblicke später erneut in dem Wagen des Mädchens wieder. Auch dieses mal läuft das Radio und Tanne lässt sich von belanglosem Radiogedudel berieseln und merkt, wie sie langsam müde wird. Irgendwann kann sie ihre Augen nicht mehr aufhalten. Erst als das Auto hält, wird sie aus ihrem Schlaf gerissen. Sie haben am Anfang einer Spielstraße gehalten. „9 b“ sagt das Mädchen „und denk an die Regeln“. Dann wirft sie Tanne eine große, dunkle Tasche zu. Zögerlich steigt Tanne aus dem Wagen aus. Jetzt beginnt ihr Herz wie wild zu pochen. Verdammte scheiße, sie ist kurz davor, einen Einbruch zu begehen!
Fortsetzung folgt…