Unvergessene Weihnachten: Der Schlüssel

Von Lisa Kraft

Endlich! Heute war der 24. Dezember, und ich hatte voller Freude das größte Türchen an meinem Adventskalender aufgerissen. Die Vorfreude auf Weihnachten verursachte bereits ein leises Kribbeln in meinem Bauch, auch wenn das Weihnachtsfest bei uns doch etwas anders verlief als in anderen Familien. Zu allem Überfluß hatte nämlich meine Großmutter an diesem Tag auch noch Geburtstag – als ob Heiligabend nicht schon genügen würde. Also versammelte sich die gesamte Familie, alle Kinder, Onkel und Tante, in der großen Wohnung meiner Oma am Ende unserer Straße, wo der Gänsebratenduft durch sämtliche Räume zog und der Tannenbaum bis zur Decke reichte. Wir sangen gemeinsam, und wir Kinder sagten Weihnachtsgedichte auf. Die unzähligen Pakete mit den kleinen Namensschildern, die nun bald wieder unter dem Tannenbaum liegen würden, verfolgten mich schon durch die ganze Adventszeit in meinen Träumen.

Während mein Vater bei unserer Oma blieb und den Weihnachtsbaum schmückte, hatte sich meine Mutter ausgerechnet mein kleines Zimmer ausgesucht, um alle Geschenke für die Familie zu verpacken. Ich stand natürlich vor der geschlossenen Tür und hielt sogar den Atem an, um meine Schlußfolgerungen aus dem Rascheln und Knistern des Papiers ziehen zu können oder das undeutliche Gemurmel meiner Mutter besser zu verstehen. Der Weihnachtswunsch nach einer Puppe mit langen goldblonden Haaren war einfach übergroß in mir. Gerade noch rechtzeitig hatte ich meinen Horchposten verlassen, als meine Mutter mit geheimnisvollem Lächeln aus dem Zimmer trat, die Tür abschloß und den Schlüssel oben auf dem schweren Eichenschrank deponierte.

Nach einiger Zeit waren wir endlich fertig angezogen, nur die Taschen mit den Geschenken mußten noch aus meinem Zimmer geholt werden. Das war leichter gesagt als getan, denn meine Mutter konnte und konnte hoch oben auf dem Schrank den Schlüssel nicht ertasten. Sie reckte sich auf Zehenspitzen und streckte den Arm so hoch und weit wie möglich, um den Schlüssel zu finden. Als sie endlich das kalte Metall an den Fingern spürte und zugreifen wollte, stieß sie den Schlüssel dabei aus Versehen hinter das riesige schwere Möbelstück, das keine zehn Pferde bewegen konnten.

Wie erstarrt sahen wir uns an. Uns war sofort klar, daß dieses Weihnachtsfest einen ganz anderen Verlauf nehmen würde als in all den Jahren zuvor. Oma und der Rest der Familie warteten bestimmt schon ungeduldig auf uns. Bescheid sagen konnten wir auch nicht, denn damals besaß noch keiner von uns ein Telefon.

Ratlos polierte meine Mutter am Küchentisch die roten Weihnachtsäpfel aus dem Schrebergarten meiner Oma, während ich schluchzend am Fenster stand und auf die verlassene Straße mit den Häusern schaute, durch deren Fenster man die inzwischen hellerleuchteten, feierlich geschmückten Räume sah. Wie zum Hohn erklang unter uns auch noch der Chor der Nachbarn. Ihr „Stille Nacht, heilige Nacht …“ drang bis in die Küche zu uns herauf. Und dann piepste Fiete Kai auch noch „Maria durch ein’ Dornwald ging“ auf seiner Blockflöte!

Hätte die faule Socke nicht wenigstens besser üben können, dachte ich. Mir schien, als spürte ich auf meiner Haut die Dornen. Daß ich mein Weihnachtsgedicht so mühevoll auswendig gelernt hatte, würde nun wohl auch niemanden mehr interessieren.

 Aber dann kam mir eine Idee. Mir fiel Fiete Kais Haustürschlüssel ein, der ihm ständig an einem schwarzen Schnürsenkel um den Hals hing. Es war unser allergrößtes Geheimnis, daß dieser Schlüssel auch zu unserer Wohnungstür paßte und wir oftmals auf diese Art und Weise die Weihnachtsplätzchen meiner Mutter heimlich vorgekostet hatten. Wenn dieser Schlüssel zu beiden Wohnungen paßte, konnte doch auch der Schlüssel von Fiete Kais Kinderzimmer zu meinem passen?

Ich flog die Treppe fast hinunter und bat die Mutter meines Freundes um seinen Zimmerschlüssel. Sie musterte mich sehr verdutzt von Kopf bis Fuß, aber wohl weil Heiligabend war, lag der Schlüssel plötzlich doch in meiner Hand. Als ich an unserer Tür klingelte, liefen meiner Mutter dicke Tränen über die Wangen und ihre Locken schienen alle Pracht verloren zu haben. Ich aber stürzte in die Wohnung, um im nächsten Moment meine Zimmertür zu öffnen. O, du fröhliche, selige Weihnachtszeit!

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Unvergessene Weihnachten. Bild: Zeitgut Verlag/Privatbesitz des Verfassers

Überglücklich sollte ich noch an diesem Abend mit Gerlinde, meiner blondgelockten neuen Puppe, vor dem riesengroßen, glitzernden Weihnachtsbaum stehen. Es mußte ja keiner wissen, daß ich in Wirklichkeit schon wieder heimlich angefangen hatte, die vielen bunten Schokoladenkringel am Weihnachtsbaum zu zählen …

Unvergessene Weihnachten. Band 12

29 besinnliche und heitere Zeitzeugen-Erinnerungen aus den Jahren 1925 bis 2009. 192 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister. Zeitgut Verlag, Berlin.

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