Coronas literarische Vorboten – Geschichten über Viren und Pandemien

Teil 4: "Die Pest" von Albert Camus

Schon zu Zeiten, als Corona noch das spanische Wort für “Krone” oder ein mexikanisches Maisbier war, waren Epidemien und Pandemien ein beliebtes Motiv in der Literatur, sei es, um vor einer bestehenden Gefahr zu warnen oder als Analogie zu anderen Sachverhalten. Im Anbetracht der aktuellen Lage haben wir eine neue Rubrik ins Leben gerufen: Coronas literarische Vorboten. Hier stellen wir Erzählungen und Romane vor, die von Viren und Pandemien handeln. Dabei schauen wir sowohl auf alte als auf jüngere Werke der Literaturgeschichte. Können wir aus manchen dieser Erzählungen vielleicht auch Schlüsse für die Gegenwart ziehen?

Von Dustin Lange

Es beginnt mit einer Ratte, die Dr. Bernard Rieux eines Morgens vor die Füße läuft und stirbt. Blut fließt aus ihren sämtlichen Körperöffnungen. Sie war offenbar schwer krank. Aber wen interessiert das schon? Es ist schließlich nur eine Ratte. Im Laufe des Tages tauchen mehr und mehr tote Ratten in den Straßen der Küstenstadt Oran in den französischen Kolonie Algerien auf. Doch das Leben geht weiter seinen gewohnten Gang. Selbst als sich die toten Tiere zu Bergen auftürmen, ist man allgemein höchstens etwas beunruhigt und als das Massensterben schließlich ein Ende findet, ist es bald schon fast wieder vergessen.

Dabei steht das Schlimmste erst noch bevor. Die Pest, an der die Ratten zugrunde gingen, beginnt unter den Menschen zu wüten. Die Stadt wird abgeriegelt, Schulen und Kasernen werden zu Notkrankenhäusern umfunktioniert.

Albert Camus’ 1947 erschienener Roman handelt weniger von der titelgebenden Pest selbst, sondern in erster Linie von dem Effekt, den sie auf die Menschen hat.

Die zahlreichen Charaktere repräsentieren dabei verschiedene Sichtweisen auf die Ereignisse:

Dr. Rieux, der aus einer pragmatischen Nächstenliebe heraus unermüdlich, maschinenartig die Kranken versorgt, obwohl es für die meisten keine Hoffnung gibt. Raymond Rambert, ein Journalist von Außerhalb, der durch die Quarantäne in der Stadt festgesetzt wird und einen neuen Zweck in der Fremde findet. Pater Paneloux, der die Pest als Strafe Gottes ansieht, um nur einige Beispiele zu nennen.

Es ist kein großes Drama, kein Epos oder ein Thriller, den andere Autoren aus ähnlichen Ideen gesponnen haben. Der Erzähler der Geschichte, ein namenloser Chronist, der die Ereignisse miterlebt hat, in der Geschichte selbst aber keine Rolle spielt, berichtet distanziert und beinahe kühl von den grausamen Vorkommnissen. Auch als Särge und Plätze für Gräber knapp werden, die Massen an Leichen zunächst in riesigen Gruben verscharrt und schließlich zuhauf verbrannt werden müssen, bleibt der Ton der Erzählung nüchtern. An einer Stelle heißt es bezeichnenderweise: »[Die Pest] war in erster Linie eine umsichtige, fehlerlose und gut funktionierende Verwaltung.«

Die Pest ist ein Roman über Menschen und die Menschlichkeit, konfrontiert mit einer Gefahr, der sich niemand erwehren kann. Die Pest bedroht jeden und macht keinen Unterschied darin, wen sie befällt. Man kann sie nicht verjagen, nicht fangen, nicht erschießen. Man muss sie aussitzen, bis sie verschwindet oder ein Heilmittel gefunden wird.

Die Ungläubigkeit zu Anfang, als sich die Menschen noch unverwundbar wähnen, die Verzweiflung, als die Krankheit unaufhaltsam um sich greift, schließlich die erschöpfende Resignation während der langen Quarantäne, wenn nur noch ganz pragmatisch getan wird, was eben getan werden muss, ohne Klage, aber auch ohne jede Leidenschaft und man nur noch hofft, dass es vorbeigehen wird.

Camus’ Schilderung dieser Vorgänge mag über 70 Jahre nach seinem Erscheinen in Hinblick auf unsere derzeitige Situation erschreckend prophetisch wirken, aber schließlich ist unsere jetzige Pandemie bei weitem nicht die Erste und auch zu Camus’ Lebzeiten hatte es bereits viele gegeben.

»Es hat auf der Welt genau so viele Pestepidemien gegeben wie Kriege. Und doch treffen Pest und Krieg die Menschen immer unvorbereitet«, schreibt er und behält recht.

Wie das Leben funktionieren kann, trotz Krisen und einer ungewissen Zukunft und wie der Mensch sich im Angesicht großen Schreckens nicht nur seine Menschlichkeit bewahren, sondern sie sogar neu für sich entdecken kann, davon erzählt Die Pest.

Die Pest (La Peste), Albert Camus, Roman, 350 Seiten, Rowohlt Verlag, Erstveröffentlichung 1947.

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