-TABU BRECHEN-
Eine wie andere
Die breiten Sofas im StugenEck stehen sich quer gegenüber. Duden und Enzyklopädien füllen das Stahlregal. Eine lebensgroße Shakespeare-Pappfigur starrt mich aus den Augenwinkeln an. Ab und zu hört man dumpfe Schritte auf dem Flur. Hin und wieder summt der Kühlschrank seine Melodie, um einen Liter frische Weidevollmilch – 3,5 Prozent Fett – und Erdbeermarmelade zu kühlen. Die Uni ist fast leer – draußen ist es dunkel. Ein Samstagabend. 18 Uhr.
von Anne-Kathrin Oestmann
„Ich möchte meine Erfahrungen erzählen und bin mir sicher, dass es vielen helfen wird“ sagt Marcel. Erst gestern habe er ein Video im Internet gesehen – Real Talk über Depressionen. Heute redet er selber – Real Talk über Depressionen. Marcel studiert im Master. Sein Studium war schon immer stressig gewesen, aber im Sommer letzten Jahres war es stressiger als normalerweise. Bis es diesen einen Moment gab, in dem ihm der Leistungsdruck über den Kopf wuchs. „Ich muss, nein ich sollte jemanden fragen, der spezialisiert ist“ sagt er. Seine erste Anlaufstelle war die PBS an der Universität Bremen. Daraufhin begann er eine Psychotherapie – seit Dezember 2019 – jede Woche ein Termin. Erst jetzt weiß Marcel, dass er nicht der einzige Mensch mit Depressionen und diese nur eine Krankheit ist. Eine Krankheit, wie jede andere – die man behandeln kann. Er interessierte sich kaum noch für das, was er mal als interessant empfunden hat. „Nicht für die Leute, nicht für die Arbeit, im Vergleich zu den anderen“ sagt Marcel. Er isst nur noch wenn er Hunger hat – genießen tut er das schon lange nicht mehr.
Heute trägt er einen schwarzen Vollbart. Vereinzelt stechen graue Härchen heraus. Schon als Kind hatte Marcel Probleme. Er sei immer im Zimmer geblieben, wenn Gäste zu Besuch kamen. Gedanken kreisten in seinem Kopf – mehr Gedanken als nötig gewesen wären. Und Sorgen. „Ich sollte immer perfekt sein.“ sagt er. Der älteste Sohn in einer konservativen Familie zu sein, machte es ihm nicht leichter. „Wenn ich selber die Entscheidung treffen könnte, würde ich in einem Hotel arbeiten. Ich will diesen tollen Erfolg nicht und das Leben wäre einfacher.“ Aber für die Gesellschaft und Familie, in der Marcel groß geworden ist, zählt nur eines – die Gedanken der anderen, der Verwandten und Nachbarn.
Toast statt Dostojewski
Die neue Sprache, Kultur und offene Gesellschaft waren und sind eine weitere Last. „Hier in Deutschland habe ich richtige starke Persönlichkeiten kennen gelernt, egal ob Männer oder Frauen.“ Fünf Jahre – aber noch immer hat er keine festen Freundschaften schließen können. Trotz Salsa-Kurs, Fitnessstudio oder WG. Den Bachelor hat er in Syrien abgeschlossen – ein Jahr hat es gedauert, um nach Deutschland zu kommen. Nicht als Flüchtling sondern als Student. „Wenn ich zu jemanden sage, – „Ich komme aus Syrien“ – hat er oder sie direkt einen Schock. Die Leute haben immer das Vorurteil, dass wir als Flüchtlinge hier her gekommen sind. Ich weiß nicht genau was die Leute denken, aber wenn ich es ihnen erzähle, haben sie Angst“ sagt er. Dabei will er nur eines: Jede Person, die er begegnet, kennen lernen und sich selbst zeigen können. Endlich interessante Gespräche führen, statt Small Talk im Alltag. „Schuld und Sühne“ von Fjodor Michailowitsch Dostojewski ist Marcels Lieblingsroman. Seine Mitbewohner finden aber nur Toast geil.
Der ständige Druck, die Prüfungsmodule zu bestehen, sein Studium- und Stipendiumsplatz nicht zu verlieren und ein Arbeitsplatz zu finden, um nicht nach Syrien abgeschoben zu werden, frisst all seine Zeit. Breitbeinig sitzt er auf der Kante des Sofas, stützt die Ellenbogen auf die wippenden Knie. Die Deutschen seien freundliche Menschen und Marcel sucht weiter die Schuld bei sich selbst. Er sei noch immer schüchtern, ängstlich. „Und sensibel. Ich bin sehr sensibel. Ich weine ohne Grund“ sagt er. Dabei würde er gerne tiefgreifende Freundschaften und Beziehungen führen – trotzdem blieben Bekanntschaften nur Bekanntschaften.
Probleme groß machen
„Warum mache ich mir mehr Sorgen als andere? Jeder hat die gleichen Probleme mit dem Studium, der Arbeit, Beziehungen oder Freundschaften, aber vielleicht liegt es auch an meiner Persönlichkeit?“ sagt Marcel. Für ihn ist es kein Ausweg Masken aufzusetzen und Probleme zu verdrängen – offen zu sagen, dass er depressiv ist, aber auch nicht. Marcel hat Angst davor, dass er bemitleidet, besonders behandelt oder aber auch abgestempelt werden könnte. Nur selten erzählt er engen Freunden aus seiner Heimat wie er sich fühlt. „Sie können mir aber nicht helfen“ sagt er. „Wer mir helfen könnte, ist die Psychotherapeutin, weil ich meine Probleme schon lange habe. Große Probleme oder ich mache sie groß, weil ich so eine Type bin“ sagt Marcel und lacht. „Zu sprechen hilft sehr. Man fühlt sich besser.“
Jeden Tag setzt er sich kleine Ziele, sieht Videos über positives Denken, um sein Unterbewusstsein zu manipulieren. Regelmäßig versuche er Sport zu machen – im Fitnessstudio. Dabei tätschelt er die blaue Sporttasche, die neben seiner rechten Seite auf dem Sofa liegt. „Nach dem Sport fühle ich mich sehr gut. Es bringt mir positive Energie“ sagt Marcel. „Ich bin 29 und habe sehr viel verpasst in meinem Leben. Zu Hause und hier. Ich will die nächsten 10 Jahre genießen und die Lösung ist die Psychotherapie.“
Wenn Ihr Hilfe benötigt, wendet Euch an die Psychologische Beratungsstelle der Universität Bremen unter: (0421) 22 01 – 1 13 10 pbs@stw-bremen.de oder bei der TelefonSeelsorge Bremen unter:
0800 – 111 – 0 – 111