Moskau für Anfänger
Von Wodka bis Matroschkas, Tolstoi bis Dschingis Khan (die deutsche Musikgruppe, nicht der Mongolenführer), von Putin bis Gorbatschow (der Präsident, nicht das Genussmittel): Assoziationen zu Russland sind vielfältig. Und ließen sich im Rahmen einer Exkursion mit der Realität abgleichen.
Von Lisa Urlbauer
„Was willst du denn in Russland?“ Mehr als nur einmal bekam ich diese Frage zu hören. Zuletzt von der Verkäuferin im Buchladen, als ich mir kurz vor Abflug noch einen Reiseführer kaufte. Ja, was wollte ich denn eigentlich dort? Offizieller Grund: Internationale Studierendenkonferenz zum Thema europäisch-russischer Dialog in Moskau. Doch die Konferenz rückte fast ein wenig in den Hintergrund, war unsere einwöchige Reise doch auch mit dem Besuch von Einrichtungen verbunden. Gerade mal zweieinhalb Flugstunden liegt die russische Hauptstadt vom Hamburger Flughafen entfernt. Doch wie bereitet man sich auf ein Land vor, das scheinbar so weit weg vom europäischen Leben ist? Die Hard Facts zum wissenschaftlichen Arbeiten und Grundwissen zu Russland gab es in zwei Seminaren der integrierten Europastudien. Für die persönlichere Note las ich noch ein Themenheft zu Russland: Artikel zu russischer Vulgärsprache und jugendlichem Nationalismus. Und damit noch einmal vor Ankunft eine Erinnerung auf 50 Seiten: Moskau ist nicht Russland. Stimmt, da war ja was. Schließlich ist Berlin ja auch nicht Deutschland, New York nicht die USA und Brüssel nicht die EU. Aber mit einem zwanzig Tage gültigem Visum lassen sich nicht 9.000 Kilometer Land durchqueren, über 140 Millionen Menschen interviewen und in 11 Zeitzonen leben – erst recht nicht mit dem Budget einer Studentin. Also beschränkte ich mich doch auf Moskau und jene Russen, die uns während unseres Aufenthaltes begleiteten.
Europäisch-russischer Dialog
Gleich zu Beginn unserer Zeit an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU) wurde eine essenzielle Frage gestellt: Einen europäisch-russischen Dialog, gibt es den überhaupt? Auf politischer Ebene zumindest scheinen die Fronten verhärtet zu sein. Seit der Eskalation im Ukraine-Konflikt summieren sich die gegenseitig verhängten Sanktionen; „Westen“ und „Osten“ stehen sich kritisch gegenüber – wieder einmal. Seit vergangenem Jahr findet der Ausdruck des Kalten Krieges wieder vermehrt Raum in den Medien. Die Probleme zwischen „Westen“ und „Osten“, genauer: der Europäischen Union und Russland, sind komplex und weit mehr als nur der Schauplatz Ukraine. Man neigt leicht dazu, Komplexes zu vereinfachen. Russland, ein autoritäres Regime, ist seit Ende der Neunziger Jahre unter Wladimir Putins politischer Macht. Der Präsident findet großen Anklang in der Bevölkerung. Die Souvenirshops sind voll von Putins Antlitz auf T-Shirts und Magneten. Doch es gibt sie, die Kritiker, die nicht kremltreuen Russen – zum Beispiel an der RGGU. Denn Putin ist nicht gleich Russland. Auch wenn unsere „westlichen“ Medien das hin und wieder einmal vergessen. Aber da wäre sie also, die Vereinfachung von Komplexem. Ein Thema, mit dem wir uns auch auf der Studierendenkonferenz beschäftigten. Ist ein Dialog auf staatlicher Ebene auch gerade sehr schwer, so gibt es dennoch einen solchen, nämlich auf wissenschaftlicher Ebene.
Das Gegenteil von kremltreu
Abseits der Universität führte uns ein Besuch zur Jabloko Partei. Im Hauptstadtsitz der außerparlamentarischen Opposition erfuhren wir einiges über ihre Arbeit und Ziele. Beginnend in 2001 verschärfte Putin das Parteiengesetz über die Jahre immens. Engagement in einer Partei, die nicht systemkonform ist, sondern sich gegen den vorherrschenden Stalin-Kult und die Annexion der Krim ausspricht, ist nicht immer leicht. Auf Nachfrage erfuhren wir, dass Verhaftungen und Konflikte mit Familie und Freunden auch dazugehören. Oppositionspolitiker Boris Nemzow verlor sein Leben im März dieses Jahres. Auf einer Brücke, die Moskwa überquerend mit Blick auf den Kreml, wurde er erschossen. Von Staatsseite aus ist der Mord gelöst, als Täter gilt ein religiös motivierter Tschetschene. Anhänger und Nahestehende Nemzows glauben aber eher an die Verbindung zu hochrangigen Politikern. Auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben einen schweren Stand in der Föderation. Die internationale Menschenrechtsorganisation Memorial setzt einen besonderen Fokus auf die historische Aufarbeitung der Unterdrückten in der Sowjetunion und arbeitet gleichzeitig aktiv gegen totalitäre Strukturen. In Bibliotheken und Archiven werden Unterlagen aus den Arbeitslagern gesammelt. In einigen Fällen werden die Überlebenden des sogenannten GULag-Systems auch von der Organisation unterstützt, denn sie leben häufig in großer Armut. 2012 trat ein Gesetz in Kraft, das vom Ausland unterstützte NGOs als „Ausländische Agenten“ einstuft. Daraus resultieren eine gesonderte Registrierung und strengere Finanzkontrollen. Damit soll ausländischen Staaten der Einfluss auf die russische Innenpolitik genommen werden. Eine Teilorganisation von Memorial fällt bereits unter dieses Gesetz.
Von Sowjetnostalgie und amerikanischem Lebensgefühl
Zu guter Letzt besuchten wir die „Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft“. Das Gelände im Norden der Stadt umfasst rund einhundert thematische und regionale Gebäude, entstanden zu Sowjetzeiten. Als erstes steuerten wir den zentralen Pavillon an. Vor ihm ist Lenin errichtet – gerade unter Rekonstruktion. Die Gebäudeverkleidung zieren Hammer und Sichel sowie die kyrillischen Buchstaben für UdSSR in vielfacher Ausführung. Ich schlug „Sowjetnostalgie“ im Reiseführer nach: Das Wiederaufleben sowjetischer Produkte wurde dort beschrieben. Und zum 1. Mai, dem Tag der Arbeit, würden die Massen mit roten Fähnchen auf dem Ausstellungsgelände feiern. Schon jetzt war der Ort gut besucht. Doch das Schwelgen in Erinnerung dürfte nicht mit dem Wunsch nach der Rückkehr der Sowjetunion verwechselt werden. Richtig so, dachte ich, schließlich möchte man auch nicht die DDR zurück, nur weil man schöne Erinnerungen an seine Kindheit in Ostdeutschland hatte. Während wir an den Pavillons zu Ehren der einzelnen Sowjetrepubliken entlangschlenderten, fiel mir auf, dass Musik über das Gelände dröhnte: Keine traditionellen Volkslieder, sondern aktuelle „westliche“ Charts-Musik. Ich war überrascht, schließlich war doch „der Westen“ ultimatives Feindbild zu Sowjetzeiten. Doch heute, da sind die Moskauer Straßen verstopft mit Geländewagen US-amerikanischer Hersteller, einige der Fastfood-Ketten haben es bisher nicht einmal auf den europäischen Markt geschafft. Und auch als ich meinen Blick während unserer vielen Fahrten mit der Metro durch den Waggon schweifen ließ, wurde mir klar: „Die“, nämlich die Bewohner Moskaus, unterschieden sich nicht besonders von „uns“, denen im Westen. Der gleiche Gesichtsausdruck, die gleiche Kleidung, die gleichen Handys. Nur was politische Meinungen angeht, differenzierten „wir“ uns doch noch stark von „ihnen“ – aber nicht von allen, das merkte ich diese Woche ganz deutlich. Abreise vom Flughafen Sheremetyevo, sibirischer Wodka und eine kleine Matroschka im Gepäck. Mit einigen Assoziationen reiste ich nach Moskau – teilweise richtigen, teilweise falschen. Es wurden viele Fragen gestellt, manche blieben unbeantwortet. Aber eines, das ist mir deutlich geworden, als ich nochmals einen Blick auf die kyrillischen Buchstaben werfe, die für amerikanisches Fastfood und europäische Kleidung werben: Das scheinbar so ferne Land im Osten Europas ist so vielfältig wie die Zwiebeltürme, die seine Hauptstadt säumen – und uns näher als wir glauben.
Titelbild: Lisa Urlbauer