Zwischen Trend und Tradition
Die Kultur eines Landes vollständig und im Zeitraffer abzubilden, ist zweifellos ein gewagtes Unterfangen. “Cool Japan”, so der Name der aktuellen Sonderausstellung im Überseemuseum, hat sich genau das zum Ziel gesetzt. Der ScheinWerfer begab sich auf einen Rundgang, um zu überprüfen, ob das Unterfangen geglückt ist.
Von Florian Fabozzi
Schon am Eingang macht der Besucher mit dem Alltag der Japaner im 17. Jahrhundert Bekanntschaft. Hierbei liegt das Augenmerk auf den berühmten Samurai. Verschiedene Kriegswerkzeuge und Rüstungen der japanischen Krieger werden hier zur Schau gestellt. Darunter auch die aus Stahl gefertigten Samurai-Schwerter, deren aufwändige Produktion damals ganze zwei Wochen in Anspruch nahm. Ironischerweise fungierten all diese Waffen lediglich als Statussymbole, denn das Japan des 17. und 18. Jahrhunderts war von Frieden geprägt. Die Samurai mussten sich mit simulierten Kämpfen begnügen – und genossen trotzdem gesellschaftliche Privilegien. Bei den Ausstellungsstücken fallen die detaillierten und symbolträchtigen Verzierungen ins Auge.
Mehrere Theatertraditionen
Es folgt ein Einblick in die blühende Theaterszene des frühneuzeitlichen Japans. Hierbei stehen zwei Traditionen in Konkurrenz zueinander: Das elitäre Nō-Theater und das eher bürgerlich orientierte Kabuki-Theater. Charakteristisch für das Nō-Theater ist die Vielfalt an ausdrucksstarken Masken, die von den Hauptdarstellern getragen werden. In den Theaterstücken geht es meist um abstrakte Themen. Götter und übersinnliche Wesen spielen eine zentrale Rolle. Das Kabuki-Theater ist vor allem unterhaltend. Die beliebten Aufführungen zogen sich meist über Stunden und behandelten Themen und Probleme des bürgerlichen Alltags.
Vom Theater ist es nur ein kleiner Sprung hin zur japanischen Literatur der Edo-Zeit. Faszinierend sind die bereits sichtbaren Einflüsse auf die später aufkommende Mangakultur. Das enge Zusammenspiel zwischen Texten und Illustra- tionen gibt einen Vorgeschmack auf jene Werke, die 300 Jahre später massenhaft die japanischen Bücherregale füllen.
Zur Literaturtradition gehören auch Horror- geschichten. Meist handeln diese von sogenannten „Rachegeistern.“ Frauen, denen Unrecht getan wurde, spuken nach ihrem Ableben als Geistergestalten herum und plagen ihre einstigen Peiniger solange, bis sie schließlich ihre Rache bekommen. Die Besucher erhalten die Gelegenheit, sich einige der schaurigen Geschichten vorlesen zu lassen – eingesprochen von Bremer Theaterschauspielern.
Roboter als Freund und Helfer
Nach einem kurzen Abstecher zur Bildung und Medizin der späten Edo-Zeit, betreten die Besucher die lebhafte und bunte Gegenwart der japanischen Popkultur. Dabei lernen sie unterschiedliche Robotermodelle kennen. Bekannt ist vor allem „Paro“ ein flauschiger und täuschend echter Robo-Seehund, der seit Jahren erfolgreich in der Altenpflege eingesetzt wird. Es wird deutlich, dass Japaner die Roboter als Freund und Helfer ansehen, anders als in der westlichen Tradition, in der sich Roboter in dystopischen Welten häufig gegen die Menschheit erheben. Einige Exemplare sind optisch Mangafiguren nachempfunden.
Das ist beispielhaft für die rege Befruchtung zwischen Technologie, Mangas, Animes und Videospielen. Geschichten aus Mangas bieten Stoff für Animes und Videospiele, und andersrum inspirieren die Handlungen von Videospielen oftmals Anime-Studios, wie es bei Pokémon der Fall war. Ein Highlight im Manga-Bereich ist die Ausstellung des allerersten Manga-Hefts von 1814, das optisch nicht so sehr von heutigen Sehgewohnheiten abweicht, wie man vielleicht denken mag.
Der thematischen Ausrichtung von Mangas sind keinerlei Grenzen gesetzt: Neben Geschichten für Jungen und Mädchen, gibt es unter anderem Kochbücher und Schulbücher im Mangaformat. Auch pornografische Mangas, die sogenannten Hentai, erfreuen sich großer Beliebtheit. Beim Erblicken der Mangas unterschiedlicher Jahrzehnte, werden auch die Veränderungen der japanischen Gesellschaft sichtbar.
An kleinen Bildschirmen werden Ausschnitte aus Animes der vergangenen Jahre abgespielt. Darunter auch beliebte Kinderserien wie Heidi und Biene Maja, bei denen der japanische Ursprung vielen nicht bewusst ist. Ein weiterer, älterer Anime ist die Geschichte vom weißen Löwen Kimba, die aller Wahrscheinlichkeit nach als Inspiration für Disneys König der Löwen diente.
Muscheln, Karten und Videospiele
Die Popkultur Japans hat jedoch mehr zu bieten als Mangas und Animes. Die Japaner haben ein Faible für Memory. Als es noch an den Karten fehlte, spielten sie es mit Muschelhälften, die sie ihrem jeweiligen Gegenstück zuzuordnen versuchten. Am Ende des 19. Jahrhunderts brachte der frisch gegründete Kartenhersteller Nintendo sein erstes Kartenspiel heraus – ein Quartett zum Thema „Jahreszeiten“. Schon bald sollte sich Nintendo Höherem widmen, als nur der Produktion von Kartenspielen: Das Unternehmen stieg zum weltbekannten Videospielgiganten auf.
Die Neugierigen und die Nostalgiker unter den Gamern können auf einer 30 Jahre alten Konsole den Klassiker “Tetris” ausprobieren – ein Angebot, das bei den Besuchern sehr gut ankommt. Noch enthusiastischer widmen diese sich der gegenüberliegenden Karaoke-Anlage. Songs berühmter Bands und Künstler wie ABBA, Oasis oder Nena können hier performt werden. Nichts für Feiglinge, schließlich hallt der Gesang durch den halben Ausstellungsbereich. Natürlich kommt auch die japanische Musikszene nicht zu kurz: Auf einem Bildschirm erscheinen Musikvideos bekannter J-Pop-Songs. Hier steht weniger das gesangliche Talent als die Selbstinszenierung im Vordergrund. J-Pop-Stars sind in erster Linie Stilikonen.
Apropos Stil: Nun folgt ein Ausflug in die japanische Modeszene. Vor allem das Lolita-Outfit sticht sofort ins Auge. Es besteht meist aus einem knielangen Rock und einer langärmligen Bluse. Der vom Rokoko beeinflusste Lolita-Stil verleiht den weiblichen Trägerinnen etwas Verspieltes und Mädchenhaftes. Durch ihre Kleidung versuchen Japaner häufig ihre Kindheit zu erhalten, denn diese wird als der Lebensabschnitt der größten persönlichen Freiheit erachtet. Beim täglichen Schminken versuchen Frauen ihre Augen besonders groß erscheinen zu lassen – womöglich in Anlehnung an Manga- und Animefiguren.
Es lebe die Natur
Ein wenig unvermittelt erfolgt nun der Sprung zurück in die Edo-Zeit. Es waren damals die Geishas, die ästhetische Maßstäbe setzten. Weiße Haut, auf die Stirn versetzte Augenbrauen, ein roter Mund und geschwärzte Zähne waren kennzeichnend für das äußerliche Erscheinungsbild der berühmten Unterhaltungskünstlerinnen. Ein Erkennungsmerkmal sind ihre kunstvoll gestalteten Schirme, von denen zwei Exemplare ausgestellt sind.
Der kleine Bereich über die japanische Reisekultur steht ein wenig im Schatten des ansehnlich gestalteten Ganges zum Thema “Feiertage und Feste”. Im edlen Weiß erstrahlende Kirschblüten schmücken die Decke und fügen sich gut in das Gesamtbild des Ausstellungsbereichs ein. Kaum ein Volk zelebriert seine Pflanzenwelt so ausgiebig wie das japanische. Das hier bekannte Kirschblütenfest ist nur eines von vielen, das der heimischen Blumenpracht gewidmet ist.
Wohnen wie in Japan
Beim Themenbereich zur Ess- und Wohnkultur scheuten die Aussteller keine Mühen. Eine typisch japanische Küche und ein Wohnzimmer wurden hier authentisch und mit viel Liebe zum Detail nachgebaut. Es ist davon abzuraten, die Ausstellung mit leerem Magen zu besuchen, denn unter Glashauben schimmern verblüffend echt aussehende Nachbildungen heimischer Delikatessen hervor. Dass inzwischen westliches Besteck und europäische Gerichte Einzug in die Kultur gehalten haben, verdeutlicht zu guter Letzt, dass Japan erfolgreich den Spagat zwischen eigenen Traditionen und westlichen Einflüssen geschafft hat.
Hier endet nun der aufregende Kurztrip durch die japanische Kulturgeschichte. Die Ausstellung ist geschmackvoll inszeniert, sie informiert ohne zu überfordern und bietet eine große Auswahl an Relikten vergangener Tage und aus dem Hier und Jetzt. Der Besucher kann sich dank Extras wie der Spielekonsole und der Karaokeanlage aktiv einbringen. Die Reihenfolge der unterschiedlichen Themen ist nur zum Teil plausibel, einige Vitrinen wirken, als seien sie willkürlich und hastig zusammengestellt worden. Daran stört sich aber nur, wer sich daran stören möchte. Ansonsten gilt es zu betonen, dass man kein Japan-Fan sein muss, um dem Rundgang etwas Positives abzugewinnen.
Titelbild: Übersee-Museum Bremen