Wintergeflüster

Kapitel 4

Von Saskia Langrock

Zeitungsartikel. Zeitungsartikel unterschiedlicher Zeitungen aus der Gegend, fein säuberlich ausgeschnitten, einige mit Bild, andere ohne. Auf den Bildern Leute der Bergrettung mit Spürhunden in einem verschneiten Wald, Polizisten, die auch nachts unermüdlich die Gegend durchsuchten und Hubschrauber, die über den Gipfeln der Berge kreisen. Ich brauchte keinen Blick mehr auf das Datum der Artikel zu werfen und auch nicht auf die Schlagzeilen zu schauen, um zu wissen, dass diese Artikel alle vor einem Jahr entstanden waren. Kurz nach dem Verschwinden meiner Schwester. Panik stieg in mir auf und mischte sich mit Unbehagen und den plötzlich einstürmenden Erinnerungen an den Tag vor einem Jahr und den darauf folgenden Tagen und Wochen voller Trauer, Angst, Verzweiflung und Schuldgefühle. Was brachte diesen Mann dazu, sämtliche Artikel über den Unfall und über meine Schwester in einer Box aufzubewahren? Ich hatte Bernd Gruber nie vorher gesehen und ich war mir sicher, dass er auch kein Freund meiner Eltern war. Das Gesicht wäre mir im Gedächtnis geblieben.

Ich wühlte weiter in der Box und fand ganz unten etwas, das mir ein weiteres Mal den Atem nahm. Die kleine, gestrickte, bunte Blume sah noch genau so aus, wie vor einem Jahr. An einer Öse war sogar noch ein Teil der metallenen Kette zu sehen, die die Blume einst mit einem Schlüsselbund verbunden hatte. Dem Schlüsselbund meiner Schwester. Mir kamen die Tränen, als ich den Anhänger in der Hand hielt. Plötzlich hörte ich Schritte auf der Treppe. Ich legte schnell wieder alles in die schwarze Box und stellte sie gerade wieder auf den Schreibtisch zurück, als Bernd Gruber sein Arbeitszimmer betrat.

Er sah mich etwas verschlafen an und fragte, ob ich mich verlaufen hätte und was ich denn um diese Zeit hier suchte. Dann fiel sein Blick auf die Box und er schien plötzlich nicht mehr so verschlafen. Ich musste hier raus. Dieser Mann besaß eine Sammlung aller Zeitungsartikel, die über meine Schwester erschienen waren und noch dazu ihren Lieblingsschlüsselanhänger. Er hatte mich an der Brücke beobachtet, mich mit zu sich nach Hause genommen und ließ mich nun hier schlafen. Das ganze erschien mir auf einmal nicht mehr so nett und gastfreundlich. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rannte los. Rannte an Bernd Gruber vorbei, zur Treppe, nahm meine immer noch durchnässten Schuhe von dem Hocker vor dem Kamin und zog sie so schnell ich konnte über. Hinter mir hörte ich Bernd die Treppe herunterkommen. Keuchend rief er: „Halt! Bleib stehen! Ich will dir erklären was los ist, das alles ist ganz einfach! Ich will dir nichts tun!“

Ich hatte früher, als die Themen Tod und Verschwinden noch keine große Rolle in meinem Leben spielten, genug Krimis gelesen um zu wissen, dass diese Worte meistens das Gegenteil bedeuteten. Bei einem letzten Sprint zur Tür erhaschte ich einen kurzen Blick in die Küche. Die schweigsame Frau saß trotz der späten Stunde noch am Küchentisch und im Gegensatz zu ihrem Mann schien sie noch nicht geschlafen zu haben. Als ich die Haustür öffnete, sah sie erschrocken auf und ich konnte Tränen in ihren Augen erkennen. Es blieb mir keine Zeit mehr darüber nachzudenken, ich musste raus. Ich rannte in die Dunkelheit ohne eine wirkliche Ahnung davon zu haben, wo ich mich befand und wo ich hin lief. Die nadeligen Äste großer Tannen schlugen mir ins Gesicht, Schnee blieb in meinen Haaren hängen und ich musste aufpassen, dass ich nicht stolperte, aber ich schaffte es mich ein großes Stück vom Haus zu entfernen. Völlig außer Atem blieb ich stehen und entdeckte einen Baumstumpf, auf dem ich mich erschöpft niederließ. Ich musste meine Gedanken ordnen. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich nichts trug außer einem T-Shirt und einer ausgeleierten Jogginghose, die mir Bernd Gruber gegeben hatte, damit meine nassen Sachen trocknen konnten. Lange durfte ich mich nicht hier draußen aufhalten, sonst würde ich erfrieren.

Vor ein paar Stunden war es noch genau das, was ich wollte: ertrinken, erfrieren, meinem Leben ein Ende bereiten. Die Konfrontation mit den Zeitungsartikeln und der Traum hätten das ganze eigentlich bekräftigen müssen, aber ich fühlte mich so lebendig, wie schon lange nicht mehr. In diesem Moment wollte ich nicht mehr sterben, ich wollte wissen, was Bernd Gruber über meine Schwester wusste und was er zu verbergen hatte, aber wieder zurück zu gehen erschien mir zu gefährlich. In meinem Kopf hatten sich wilde Theorien darüber gesammelt, was er in der ganzen Sache für eine Rolle spielte: Er hat meine Schwester entführt und sie getötet, er hat ihre Leiche gefunden und es niemandem gesagt, er hat sie bei der Jagd für Wild gehalten, erschossen und versucht es jetzt zu vertuschen. Mir kamen wieder die Tränen. Das alles war einfach zu viel für eine Nacht. Ich begann zu zittern. Dass Gruber mich nicht verfolgt hatte, war mir mittlerweile klar. Ich hatte ihn nicht das Haus verlassen gehört und mittlerweile hätte er mich, trotz seiner Arthrose, auf meinem Baumstumpf bestimmt gefunden, die Spuren im Schnee waren ziemlich deutlich. Somit war ich wahrscheinlich zu dieser späten Stunde alleine im Wald.

Ich musste mich bewegen, damit die Kälte sich nicht weiter in meinem Körper ausbreitete, also stand ich von dem Baumstumpf auf und lief noch weiter in den Wald hinein, für den Fall, dass Gruber doch noch nach mir suchte. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen und ich könnte mich wieder besser orientieren. Plötzlich fiel mir ein, dass ich in der Nähe des Hauses noch weitere Lichter gesehen hatte. Vielleicht ein Dorf? Der Gedanke an befestigte Straßen und Menschen, die mir vielleicht helfen konnten, ließen mein Herz schneller schlagen, also lief ich mit einigem Abstand zu meinem vorherigen Weg doch wieder zurück. Es wurde mit der Zeit immer anstrengender und anstrengender und ich fragte mich, wie oft ich in dieser Nacht nun schon vor einer Unterkühlung gestanden hatte. Nicht denken, einfach laufen, ermahnte ich mich. Die kalte, klare Luft ließ meine ganzen wirren Gedanken wieder etwas ernüchtern und ich fühlte mich wie eins mit dem wunderschönen Sternenhimmel. Ich war bestimmt schon seit einer halben Stunde unterwegs, als ich plötzlich eine einsame Laterne erblickte. Endlich! Ich hatte eine Straße gefunden! Nach und nach kamen Häuser zum Vorschein, die wie große schlafende Tiere wirkten. Bald würden die Straßen wieder mit Leben gefüllt sein und die schlafenden Tiere langsam erleuchtet werden. An einem kleinen Platz mit einer Kirche angekommen, setzte ich mich auf eine der Bänke, die den Platz säumten. Hier war es zwar immer noch kalt, aber meine Lage war nicht mehr ganz so aussichtslos.

„Hallo? Brauchst du Hilfe?“ Ich erschrak und stieß einen kleinen Schrei aus, als ich die tiefe Stimme hinter mir vernahm. Ich musste eingedöst sein. Als ich anfing zu sprechen war meine Stimme zittrig und ich merkte, dass ich meine Lippen kaum noch spürte. „I-i-ich m-m-muss wissen, w-was B-B-Bernd Gruber w-w-weiß“, konnte ich noch herausbringen, dann wurde mir schwarz vor Augen.

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