Wintergeflüster

Kapitel 3

Von Florian Fabozzi

Eine Frau mittleren Alters, augenscheinlich die Gattin meiner neuen Bekanntschaft, öffnete die Tür und bat uns hinein. Sie wirkte kaum überrascht, jedenfalls nicht so, wie ich es vermuten würde, wenn der Ehegatte ein durchnässtes, zitterndes Häufchen Elend wie mich mitten in der Nacht in die eigene, warme Stube schleppt. Sie begrüßte uns nur mit einem kurzen Kopfnicken und eilte schnellen Schrittes zur Küche des Hauses. Derweil führte der namenlose Mann mich ins Wohnzimmer.

Das Knistern des Kamins bahnte sich den Weg in meine Ohren. Es erweckte in mir Kindheitserinnerungen. Als wir an kalten, stürmischen Winterabenden im Schneidersitz vor dem Kamin saßen, Papa uns aus Pinocchio vorlas und dabei voller Inbrunst alle Stimmen imitierte. Niemand konnte uns die öden Wintertage besser versüßen, als er. Wäre er doch lieber Hörbuchautor geworden als ein einfacher Schlosser, dachten wir uns immer, ich, mein Bruder und meine kleine Schwester. Die Erinnerungen an meine fast schon klischeehafte und idyllische Kindheit verblassten zusehends und so auch die Erinnerungen an meine Schwester.

Das Wohnzimmer meines Gastgebers war geschmackvoll eingerichtet. Neben dem Kamin stand ein hohes Regal aus Eichenholz. Ich meinte den Namen „Balzac“ auf einem der alten, aber gut erhaltenen Bücher im Regal gelesen zu haben. In der Ecke des Zimmers lag ein flaches Holzkörbchen, gefüllt mit einem kleinen, azurblauen Kissen. Die vielen Haare auf dem Kissen ließen darauf schließen, dass es sich dort eine Katze regelmäßig gemütlich macht. Die Wand war geschmückt mit Rehgeweihen. Offenbar war der Mann ein leidenschaftlicher Jäger. Hätte er mich doch für Wild gehalten, die Flinte gezückt, und meinem Dasein ein Ende bereitet. Wäre das ein besserer Tod gewesen? Bei einem platzierten Treffer ins Herz oder in den Kopf sicherlich, das hätte mein sofortiges Ende bedeutet. Bei einem Schuss in den Bauch hätte ich vermutlich stundenlange Höllenqualen erdulden müssen. Ich verwarf den sinnlosen Gedanken schnell wieder, denn mir wurde klar, dass der Herr doch sowieso nicht bewaffnet war, als er mich durchnässt am Bachufer vorfand.

„Nimm doch erst mal ein heißes Bad, Fräulein“, bat mir der namenlose Mann etwas unvermittelt an, als ich gerade Platz auf der bequemen Couch gegenüber vom Kamin nahm. „Nein danke, ich hatte heute schon genug Wasser“, entgegnete ich ihm etwas zynisch, „aber ein Handtuch zum Abtrocknen hätte ich schon gerne.“ Mit schweren Schritten trottete der Herr in einen kleinen Raum, das sich als das Badezimmer herausstellte und brachte mir ein großes Handtuch. Erst jetzt bemerkte ich, dass er leicht humpelt, dachte mir aber nichts dabei. Einen weiteren Gedanken konnte mein überlastetes Hirn sowieso nicht vertragen. Zu oft zermarterte ich mir den Kopf über Pros und Contras, über richtig oder falsch, darüber, was andere über etwas denken könnten. Muss ich die Dinge aus einer anderen Perspektive sehen oder ist meine Perspektive die richtige? Was würde Kant dazu sagen? Mein Leben wäre ein besseres, hätte ich weniger gezögert. Bleibst du nur stehen und vergisst zu handeln, ist niemandem geholfen.

Als ich meine Haare und Arme trocknete, kam der Mann zur Sache. „Was bewegt eine so junge Frau dazu, sich ins eiskalte Wasser zu stürzen?“ Jetzt hatte ich also die Gewissheit, dass er mir die ganze Zeit zugeschaut hatte. Ich hatte offensichtlich nicht nur zu viel Pech, um zu leben, sondern auch zu viel Pech, um zu sterben. „Es ist kompliziert“, log ich ihn an, in der Hoffnung auf einen raschen Themenwechsel. „Was kompliziert ist oder nicht“, philosophierte er in einem leicht überheblichen Tonfall „liegt immer im Auge des Betrachters. Was du für kompliziert hältst, kann für mich unkompliziert sein, wenn es mir gelingt, deine Gefühle nachzuvollziehen, junges Fräulein.“ – „ Bei allem Respekt zweifle ich daran, dass Sie dazu im Stande sind“, antwortete ich prompt und dachte im gleichen Moment darüber nach, ob ich nicht zu harsch wurde. Andererseits fing das andauernde „Fräulein“ nun doch an nervig zu werden und ich musste ein für allemal klar machen, dass ich niemand anderem meine Probleme aufbürden möchte. Er quittierte meine Aussage mit einem Lächeln und fuhr fort: „Unterschätze nicht die Weisheit, die man in 52 Jahren auf Mutter Erde erlangt.“ 52 Jahre also. Nachdem er erstmals sein Gesicht entblößte, hätte ich ihn eher auf 40 geschätzt. Sein Dreitagebart war zwar leicht ergraut, doch seine sanften Gesichtszüge verliehen ihm ein fast schon jugendliches Erscheinungsbild.

Seine Frau betrat nun erstmals das wohlig warme Zimmer. Sie trug ein Tablett, auf dem Tassen und eine Teekanne zu sehen waren. Sie grüßte mich nicht, würdigte mich nicht mal eines Blickes und stellte das Tablett vor mir auf den Couchtisch. Ihr Gesicht wirkte fahl, die Augen leer und ihre Bewegungen ein wenig mechanisch. „Sie ist gegenüber Gästen ein wenig scheu“, erklärte der Mann, als seine Frau das Wohnzimmer wieder verlassen hatte und ich fragte mich, ob man mir so leicht ansieht, worüber ich gerade nachdachte. Jedenfalls hatte ich mir seine Frau anders vorgestellt, etwas mütterlicher und warmherziger. „Sagten Sie nicht, Ihre Frau würde sich über Besuch freuen?“, fragte ich. „Das tut sie.“, erwiderte er. „oder besser gesagt: Sie wird sich freuen, wenn sie dich besser kennengelernt hat. Morgen fährt sie runter in die Stadt, um sich ein paar schöne Kleider zu kaufen. Begleite sie doch, so ein kleiner Einkaufsbummel unter Frauen kann Wunder bewirken und es bringt dich auf andere Gedanken.“ Ich murmelte ihm ein „Joa“ entgegen und nippte an dem eigentlich noch viel zu heißen Tee, den ich mir inzwischen eingeschenkt hatte. Lieber würde ich alleine sein wollen.

Noch eine geschätzte halbe Stunde unterhielt ich mich mit dem Herren und zu meiner Überraschung verkniff er sich weitere Fragen zu meinem verkorksten Leben. Stattdessen ergriff er die Gelegenheit, sich ausgiebig vorzustellen. Bernd Gruber hieße er, tatsächlich sei er einst Jäger gewesen. Doch nachdem er vor drei Jahren an einer Arthrose im Hüftgelenk erkrankte, musste er das geliebte Hobby an den Nagel hängen. Früher betrieb er nebenbei ein kleines Plattengeschäft in der Altstadt. Auch heute noch sei er ein leidenschaftlicher Sammler von Platten, sein liebstes Exemplar: „News of the World“ von Queen. Er verdiene seine Brötchen inzwischen als Hilfskraft in einem Lager.

Ich hatte kein besonderes Interesse an seiner Person, schätzte aber seine Absicht, ein vertrautes Verhältnis zu schaffen. Das erste Mal seit Längerem fühlte ich mich ein wenig entspannt und unaufgeregt, als ich mich in das kleine Schlafzimmer im Obergeschoss begab, das Bernd, ich durfte ihn duzen und tat das widerwillig, als meinen Schlafplatz auserkoren hatte. Ich legte mich in das alte, knarzende und doch gemütliche Holzbett, das für ein so ungewöhnlich großes Mädchen wie mir beinahe zu klein war. Ich warf einen Blick auf die Sternenpracht am tiefschwarzen Himmel – es hatte aufgehört zu schneien – und schlief ein.

Schweißgebadet und wimmernd schreckte ich hoch. Laut meiner Uhr waren nur zwei Stunden vergangen, seit ich mich zu Bett begab. Ich brauchte einen Augenblick, um mich zu erinnern, wo ich mich befand. Albträume waren längst schon meine engsten Begleiter und längst habe ich aufgehört, dagegen anzukämpfen. Meistens handelten sie von meiner Schwester. Wie aus einer Nagelpistole geschossen, bohrten sich die Schuldgefühle in mein Hirn, wo sie sich einnisteten und mich von innen zerfraßen. Und was von mir blieb, war eine leblose Hülle, gefüllt nur von Selbsthass. Wieso nur gingen wir damals zur Bergspitze hoch, trotz der Unwetterwarnung? Wieso verließen wir den Wanderpfad, dorthin, wo uns niemand finden konnte? Wie konnte ich es für eine gute Idee halten, Verstecken zu spielen, inmitten eines Schneesturms? Wieso zögerte ich so lange, als ich merkte, sie würde mich nicht finden? Stattdessen blieb ich stehen. Ich stand zu lange. Ich hätte handeln müssen.
Heute jährte sich zum ersten Mal der Tag, der mein Leben ruinierte und ihres nahm. Sie wurde nie gefunden oder für tot erklärt. Doch nach zwei Monaten stellte die Polizei alle Sucharbeiten ein und damit zerfiel meine Hoffnung, sie je wieder zu sehen, zu Asche.

Ich rappelte mich auf, trocknete die Tränen und schlurfte aus dem Schlafzimmer auf der Suche nach einer Toilette. Ich öffnete die Tür zum vermeintlichen Badezimmer, um festzustellen, dass ich plötzlich in einem chaotischen, kleinen Arbeitszimmer stand. Alte Zeitungen und Büroartikel lagen auf dem Boden, als wär dort ein Orkan durchgefegt. Der Raum stand im krassen Gegensatz zum gepflegten Wohnzimmer. Mein Blick fiel auf eine große schwarze Box, die sich in der linken hinteren Ecke des Schreibtisches befand. Meine Neugier siegte über meinen Harndrang, also tastete ich mich langsam zum Schreibtisch vor. Die verdammte Neugier, sie war schon immer eines meiner größten Laster. Am Schreibtisch angekommen, blies ich die dünne Staubschicht von der Box, ergriff und öffnete sie. Was ich dort drin entdeckte, ließ mir den Atem stocken.

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