Das Nest verlassen und Fliegen lernen

Teil 2: Gemischter Salat aus der Tonne

Seit Monaten suche ich schon nach einem neuen Zuhause. Doch die Traumvorstellung von einer zentralen Altbauwohnung mit meterhohen, stuckverzierten Decken, Fenstern, die nach Süden gerichtet sind, mit mindestens 15 Quadratmetern Echtholzdielen und einer kleinen gemischten Gruppe von kreativen Menschen Anfang 20 bleibt anscheinend in den vier Wänden meines utopischen Gedächtnis. Fakt ist – Altbauwohnungen sind rar und begehrt. Jede Pushnachricht von „WG-Gesucht“ wird mit Gier geöffnet und die nächstbesten Gelegenheiten ergriffen, um hoffentlich einen „Casting-Platz“ zu ergattern – ob das dann auch etwas ist und wird, steht in den Sternen. Ich könnte behaupten, dass das WG-Besichtigen ein neues Hobby von mir geworden ist.

von Anne-Kathrin Oestmann

Die Neustadt – das Viertel 2.0 von Bremen. Versteckt in einer kleinen Seitenstraße direkt gegenüber vom Werdersee befand sich die nächste WG. Im Sommer springen häufig Halbstarke von der Fußgängerbrücke ins Wasser, begleitet von tosenden gangsterrapper Beats aus Bluetooth Lautsprechern, um sich gegenseitig was zu beweisen. Ein Typ öffnete mir die Tür, klopfte mir mit der Hand auf die rechte Schulter und bat mich mit einem Schubs herein. Wir setzten uns gemeinsam in die kleine Küche und aßen von seinem selbstgemachten Salat. Tomaten, Gurken, Paprika und Eisbergsalat. Fein gewürfelt, dazu ein gelbes süß-saures Dressing und Pinienkerne. Alles selbst gemacht, super lecker – und aus der Tonne. Denn die beiden Bewohner sind Foodsaver und ernähren sich ausschließlich von „Abfällen“. Damals containerten sie illegal, brachen nachts in die Hinterhöfe von Supermärkten ein und durchsuchten die Mülltonnen, um sich essbare Lebensmittel zu fischen. Seit einiger Zeit gibt es jedoch Organisationen, welche eng mit REWE & Co. zusammenarbeiten und auf legaler Weise überflüssige Lebensmittel kostenlos verteilen. So erhält man beispielsweise vom ALNATUTRA Bäcker zig Leibe Brot, welche als abgelaufen gelten, da sie am Ende Tages nicht verkauft wurden. Ein alternativer, interessanter und zugleich günstiger Lifestyle. Nur wenige Lebensmittel kaufen sie zusätzlich ein. Das Angebot macht kreativ, denn sie wissen nie, was sie bekommen. Abhängig davon, was in ihrem Jutebeutel landet, wird gekocht, gebraten oder gebacken.

Nach dem kurzen Snack führte er mich durch die kleine Küche, über den Minibalkon die steile Treppe hinunter in den Garten. Immer wieder versuchte er Gras an zu sähen, welches jedoch durch den Schatten kaum wuchs. Dafür spross unaufhaltsam Unkraut aus einer Toilettenschüssel. Diese wurde wie ein skulpturelles Meisterwerk eines bekannten Künstlers an der hintersten Ecke des Zauns ausgestellt. Im Keller des Hauses befand sich ein gestrecktes Zimmer und das gemeinsame WG-Bad, inklusive Dusche und Whirlpool. Im letzteren machten sich jedoch nur kurze Haare und Staub bequem. Wieder oben zeigte er mir das freie Zimmer, welches auf die Straße blickte. Recht groß, mit zwei decken-hohen Fenstern. Davor befand sich ein aus bunten Glas verzierter, offener Wintergarten. Bisher machten sich dort nur einige Fahrräder breit. In meinen Gedanken konstruierte ich bereits ein Paradies – ich würde auf der Fensterbank sitzen und die Beine baumeln lassen, während dessen ich bei einer Tasse Café die bunt blühende Blumen beobachten würde. 

Mittlerweile kam der zweite Mitbewohner von der Arbeit und zeigte mir sein Zimmer, welches mit einem Hochbett aus dunklen Holz ausgestattet war. Ein Schlafsack, welcher direkt an der Wand über der Matratze des Bettes hing, machte es zu einer kleinen Schlafhöhle. Auch in diesem Zimmer schienen alle Sachen, die der junge Mann besaß, frei verteilt zu sein. Er ging in die hinterste Ecke und hob grinsend einen hölzernen Obstkasten hoch – „Heute gibt es Erdbeerkuchen!“

Teil 1: Das Minenfeld | Teil 2: Gemischter Salat aus der Tonne | Teil 3: Fleischfasern und Leitungswasser

 

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