Silbertöne

E-Musik und ihre Liturgie

Von Neneh Sowe

Alte Menschen in Anzug oder Kleid. Das ist der gewöhnliche Anblick, den das Publikum in sinfonischen Konzerten, Opern oder anderen „klassischen“ Musikbeiträgen hierzulande bietet. Als Zuschauende oder Zuschauender unter 50 fühlt man sich fast wie ein exotisches Wesen. Am Schlimmsten sind zudem die Reaktionen der Älteren oder wie es so schön heißt: dem „erfahrenen Publikum“. Sie wissen oder meinen zumindest zu wissen, wie man sich verhält oder eher wie es üblich ist sich zu verhalten. Nämlich still, während die Musik spielt. Zwischen den Sätzen kann man ruhig ein-, zwei-, oder dreimal husten. Aber wehe man klatscht. Dann wird man belächelt oder von der Seite angeguckt. Weil man als junger Mensch ja „keine Ahnung“ hat, wie das so läuft.

Doch diese Liturgie in Konzerten ist Jahrhunderte alt. Zu Beginn des 20. Jahrhundert wurde sie eingeführt und hat bis heute Bestand. „Es sind doch eh nur alte musikalisch konservativ denkende Menschen, die in klassische Konzerte gehen. Warum sollte man daran was ändern? Die sind doch zufrieden.“ Aber gerade deswegen bedarf es doch einem Wandel.

Wenn man denn mal Jugendliche in solch einer Art von Konzerten sieht, sind es häufig Schulklassen, die mit ihren Lehrer*innen unterwegs sein müssen, oder wirklich sehr „klassikinteressierte“ junge Menschen, deren Eltern die vergangenen Epochen ebenso lieben. Ansonsten ein Meer voller – oder weniger voller – weißer Haare.
Der Altersdurchschnitt wächst und wächst und ein jüngeres Publikum mit modernen Ideen könnte nicht schaden. Zudem scheint es als würde das „Klassikpublikum“ so langsam, aber sicher, aussterben. Also höchste Zeit für eine neue Methode, um jüngere Generationen zu begeistern.

„Das macht man halt so…“

Überraschend ist dann zu hören, dass auch die Schüler*innen, sowie Studierende, die viel mit „klassischer“ Musik zu tun haben oder selbst ein Instrument spielen, der Meinung sind, dass das jahrhundertealte Verhalten bei Konzerten dazu gehört und irgendwie angemessen ist. Auch weil es niemand anders kennt. „Es wäre doch schade, wenn die Stimmung zwischen den Sätzen durch das Klatschen der Zuschauenden zerstört wird.“, bekommt man zu hören. Doch bevor die strenge Konzertliturgie eingeführt wurde, bei der alle gebannt nach vorne auf die Bühne schauen, gab es eine Zeit, in der Konzerte pure Unterhaltung waren. Wie bei heutigen Pop-, Soul- und Konzerten anderer Genres wurde geredet, gelacht und wenn ein Stück gefiel wurde einfach zwischendurch applaudiert und gejubelt sowie getrunken und getanzt. Eine einzige Party und keine ernste, seriöse Veranstaltung, bei der man in schicker Abendgarderobe sitzend still nach vorne schaut. Wäre es nicht nach zwei Jahrhunderten mal an der Zeit etwas zu ändern?

Fakten machen deutlich

Viele Statistiken zeigen, dass das Publikum ausstirbt. Einige glauben daran, andere sagen es wächst neues Konzertpublikum nach. Doch die These, dass man im Alter wieder oder immer noch die Musikrichtung hört, die man in seinen jungen Jahren zu hören pflegte, ist auf keinen Fall unbegründet und spricht somit dagegen. Die Woodstock-Generation würde man allgemein betrachtet nicht zu den Menschen zählen, die im Alter Klassik hören, eher Rock oder Country.

Eine Umfrage von 2007 zeigt, dass unter 650 befragten Konzertbesucher*innen 52% 60 oder älter und nur 8% unter 30 Jahren waren. Dieser unglaubliche Unterschied bestätigt die geahnte Veränderung. Denn im Gegensatz zu 2007 lag der Altersdurchschnitt der Besucher*innen in „klassischen“ Konzerten im Jahre 1979 bei 37 bis 39 Jahren. Da sehr wenige junge Hörende nachrücken, wird sich die Publikumszahl in den kommenden Jahrzehnten auf fast die Hälfte reduzieren. Allein bei den jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren gingen die Besuche in Konzerte der ernsten Musik stark zurück. Waren es 1993/94 noch 30%, machten sie im Jahr 2011 nur noch 15% des Publikums aus. Auch bei den 25 bis 34-jährigen, den 35 bis 49-jährigen und den 50 bis 64-jährigen sanken die Prozentzahlen. Einzig und allein die Zahlen der 65-jährigen oder älteren stiegen von 35 auf glatte 50%. Ein deutliches Indiz für die Alterung des „Klassikpublikums“.

Gähnende Leere im Konzertsaal könnte bald zum Alltag werden

Doch nicht nur die Konzertbesucher*innen werden älter, auch der Altersdurchschnitt der Orchestermusiker*innen steigt stetig an. 2005 lag der Durchschnitt zwischen 36 und 45 Jahren, bei einer erneuten Umfrage einige Jahre später bei 46 bis 50. Die Tatsache, dass man als junger Mensch keine Gleichaltrigen oder wenigstens etwas jüngere Musiker*innen sieht, ist vielleicht auch ein Grund warum sich junge Menschen nicht mit der „klassischen“ Musik identifizieren können. Vielen erscheint diese Musikgattung als verknöchert. In der Popularmusik rücken inzwischen jede Woche neue Bands oder Musiker*innen in den Fokus und es erscheint stets neue, sehr abwechslungsreiche Musik.

Die Rituale

Zu einem Konzertbesuch in der Sparte der ernsten Musik gehören verschiedenste Rituale, die bei nahezu jedem Konzert streng eingehalten werden und von dem Großteil des Publikums gewünscht sind.
Da wäre zum einen die Frontalstruktur der Bühne zum Publikum. Alle Besucher*innen schauen direkt zur Bühne und auf die Rücken der vor ihnen Sitzenden. Ein Beispiel für eine modernere Umsetzung ist die Elbphilharmonie in Hamburg, bei der sich die Bühne in der Mitte befindet und die Sitzplätze in einem Kreis angeordnet, drumherum verlaufen. Dies fördert unter anderem die Erfahrung des gemeinsamen Erlebens der Musik, da man sich, wenn man möchte, auch anschauen kann und die starre Sitzordnung in älteren Konzerthäusern aufgelöst ist.
Um die „klassische“ Musik für Jugendliche noch interessanter zu machen, wäre auch die Umsiedlung an andere Orte, an denen sich junge Leute vorwiegend aufhalten, wie Cafés, Clubs oder Bars, eine mögliche Alternative. Denn ist es nicht verlockend in der Lieblingsbar um die Ecke, in der man sowieso oft ist, zu entspannen und dann noch tolle Musik um sich zu haben? Für viele wahrscheinlich besser als der weitere Weg ins nächste Konzerthaus.

Viele Leute kennen das klischeehafte Problem der Studierenden: kein Geld. Natürlich bestätigt sich dies meistens auch. Und damit bildet es das nächste Problem und einen Grund eines mangelnden jungen Publikums. Durch die hohen Eintrittspreise wurde die Musik zu einer Art „Ware“ gemacht, die sich nur wenige Menschen leisten können. Zwar existieren bereits Vergünstigungen für Schüler*innen und Studierende, doch nicht genügend, um die jungen Menschen zu überzeugen, freiwillig dort hinzugehen. Der Aspekt des Geldes führt somit dazu, dass nur eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe in den Genuss von dieser Art von Musik kommt.
Oft wird gesagt, dass die Konzerte selbstverständlich für alle zugänglich sind, was natürlich nicht ganz falsch ist. Allerdings geschieht die Abgrenzung und Ausgrenzung auf andere Art und Weise, zum Beispiel durch die eben genannten hohen Eintrittspreise.

Zuhören, Dazugehören und das ungeschriebene Sprechverbot

Geht man heutzutage auf Popkonzerte sieht man tanzende, trinkende, lachende und sich unterhaltende Leute. Ebenso war dies in Konzerten der E-Musik vor 1910. Erst danach wurde die strenge Liturgie eingeführt. Man spricht nicht, man tanzt nicht, man lacht nicht (höchstens heimlich), bis das gesamte Stück vorbei ist. Ungeschriebene Regeln, die eingehalten werden, wenn keine bösen Blicke geerntet werden möchten. Die Musik oder eher die Bühne steht im Mittelpunkt, und ist der Grund für die Versammlung. Das Gemeinschaftserlebnis ist nahezu nicht vorhanden oder nicht die Absicht der Zuschauenden. Das Trinken, Essen und die Gespräche werden in die Pause verlegt, das Tanzen existiert nicht mehr. Der Beifall danach bleibt die einzige Möglichkeit des Publikums sich in das Konzert einzubringen oder die Wertschätzung zu äußern.

Der Wunsch der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe treibt auch viele der betagteren Konzertbesucher*innen dazu an, sich in ein „klassisches“ Konzert zu setzen. Somit kommt zum musikalischen Erlebnis noch die Funktion der gesellschaftlichen Identifikation, des Gesehenwerdens der symbolischen Zugehörigkeit zu einer gehobeneren gesellschaftlichen Schicht, auch wenn die Musik nicht wirklich gefällt. Dazu gehören bis heute außerdem das „angemessene“ Verhalten und die feierliche Kleidung. Erscheint man in einem gemütlichen Pullover oder Ähnlichem wird man von vielen direkt komisch angesehen und entspricht nicht dem „Normalen“ und „Gewöhnlichen“. Man ist anders und gehört deshalb nicht dazu.

Letzten Endes sind die alten Rituale der Kern des Problems. Sie schrecken junge Leute ab anstatt sie anzuziehen. Über 90 Prozent der Rituale sind älter als 70 Jahre, die Besucher*innen „wollen das so“ und was die Jüngeren wollen, wird nicht berücksichtigt. Obwohl sich die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert haben, wird die Aufführungspraxis nicht angepasst. Um langfristig genügend Besucherzahlen zu erreichen, sollte dies aber geschehen, ansonsten bleibt das „klassische“ Konzert ein Konzert mit vielen, vielen Silbertönen.

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