Das Nest verlassen und Fliegen lernen
Teil 7: Mit Ausblick auf den Schweinehirten und seine Herde
Seit Monaten suche ich jetzt schon nach einem neuen Zuhause. Doch die Traumvorstellung von einer zentralen Altbauwohnung mit meterhohen, stuckverzierten Decken, Fenstern, die nach Süden gerichtet sind, mit mindestens 15 Quadratmeter Echtholzdielen und ein kleine gemischte Gruppe von kreativen Menschen Anfang 20 bleibt scheinbar in den vier Wänden meines utopischen Gedächtnis. Fakt ist – Altbauwohnungen sind rar und begehrt. Jede Pushnachricht von „WG-Gesucht“ wird mit Gier geöffnet und die nächstbesten Gelegenheiten ergriffen, um hoffentlich ein „Casting-Platz“ zu ergattern – ob das dann auch etwas ist und wird, steht in den Sternen. Ich könnte behaupten, dass das WG-Besichtigen ein neues Hobby von mir gewordenen ist.
von Anne-Kathrin Oestmann
Die Sögestraße ist eine der bekanntesten Straßen in Bremen. Sie liegt mitten in der Innenstadt, zwischen den Bremer Stadtmusikanten und dem Rathaus, Schnoor und Marktplatz. Blicke der Einkaufsbummler_innen werden von dekorierten Schaufenstern im Erdgeschoss angezogen – die Wohnungen im zweiten und dritten Stock bleiben unsichtbar. Umso erstaunter war ich bei der Eingangstür-Suche der nächsten WG. Versteckt in der Einkaufspassage, ein unscheinbarer Eingang zwischen Juwelier „Ernst Meyer“ und „COS“.
Ich klingelte an der Tür und lief einen Flur entlang. Bis in den dritten Stock stieg ich die breite, steinerne Wendeltreppe hoch und wurde von zwei jungen Männern an der Tür begrüßt. „Soll ich die Schuhe gleich hier draußen ausziehen?“ fragte ich. „Ersten Test bestanden“ sagte einer der beiden und grinste mich an. „Komm herein!“ Der Flur war lang und krumm, die Decken hoch, das Licht dunkel. Sie baten mich in die Küche, dessen Deckenhöhe fast um die Hälfte geschrumpft schien. Ich setzte mich auf das Sofa und versank im selben Moment darin. „Willst du was trinken? Wir haben leider nur noch Leitungswasser“ – „Ja gerne, Leitungswasser ist okay!“ Die Küche war sauber und geordnet. Die Wand braun gestrichen. Ein Mitbewohner musste meinen skeptischen Blicke bemerkt haben. „Eigentlich sollte es ein Cappuccino-Ton werden“. Tatsächlich glich die Farbe vielmehr die eines abgestandenen Espressos. Mit dem Blick aus dem breiten Küchenfenster sah man auf die flachen Dächer der Geschäfte, welche man sonst nur von der glänzenden Schokoladenseite aus sah. Zig graue Kühler, Rohre und sonstige Geräte tummelten sich im toten Winkel der Besucher – der tägliche Ausblick hinter den Kulissen. Ein Mitbewohner reichte mir das Glas Wasser und setzte sich mir gegenüber. Der andere huschte in sein Zimmer und kam mit einem leeren Wäschekorb wieder. „Es macht dir doch nichts aus, wenn ich eben meine Wäsche mache?“ fragte er mich. „Nein, quatsch, gar nicht“. Er leerte die Waschmaschine in der Küche und hing nasse Kleidung auf die dünnen Leinen eines aufgeklappten Wäscheständers.
Beide Mitbewohner waren Ende zwanzig. Der eine studierte VWL, den „großen Bruder“ von BWL und hasst es. Ihm fehle die Motivation seinen Bachelor zu schreiben. Danach will er nach Spanien reisen, um dort sein Master-Studium zu beginnen. Der andere bleibt vorerst noch in Bremen und studiert auf Lehramt. Auch wenn ich es ungern zugebe: Lehramtstudierende sind speziell. Häufig sind immer alle eines – Noten-geil, kleinkariert und auf der Suche nach Sicherheit und Routine. Wenn er seinen theoretischen Part abgeschlossen hat, will er sein Referendariat an einer staatlichen Schule in Gröpelingen machen. Bei den Begriffen „staatlich“ und „Gröpelingen“ gucke ich ihn an. „Echt?“ frage ich ungläubig nach. Seine Antwort – blitzschnell gekontert und wie aus einem Bewerbungsgespräch kopiert: „Es ist eine Herausforderung für mich – ich liebe Herausforderungen“. In meinem Kopf spielten sich Szenen aus „Fack ju Göhte“ ab. Aber ob Elyas M´Barek die Hauptrolle der Comedy-Filmreihe seine Inspiration war, wollte ich nicht hinterfragen.
Er machte ein Auslandsjahr, surfte mit spitzen Brettern auf den Wellen vor den Küsten Neuseelands und wurde von seiner eigenen Kultur geschockt, als er nach Monaten wieder in Deutschland war. Am liebsten sei er wieder zurück ans andere Ende der Welt geflogen, um vor seiner Heimat zu fliehen. Beide Mitbewohner waren vernarrt in „Game of Thrones“ und veranstalteten gemeinsam mit Freunden Serien-Abende in der Küche. Sofa samt Tisch wurden um 90 Grad gedreht und gemeinsam wurde nach der finalen Folge der achten Staffel geweint.
Sie zeigten mir den Rest der Wohnung. Quadratische Zimmer – das eine mit Balkon, das andere nur mit Fenster, dessen zwanzig Zentimeter weiter Ausblick auf den grauen Putz des Nachbarhauses starrt. Das freie Zimmer hingegen war der Traum eines Traumes. Das größte was ich bisher besichtigte. Rechteckig, mit drei großen Fenstern, die eine kleine Bucht bildeten. Die Sonne schien hinein und mit einem Blick nach draußen sah man auf die Köpfe der schlendernden Besucher. Links quietschten die Metallräder der 4 und 6 in den Schienen der Kurve Richtung Hauptbahnhof. Das Denkmal des Schweinehirtens und seiner Herde sah aus dieser Höhe ganz anders aus – ich liebte dieses Zimmer.
Das Ende der Suche?
In den letzten Wochen habe ich ein Reihe von WG´s in ganz Bremen besichtigt. Von der Neustadt, über Mitte, Richtung Bahnhofsvorstadt und Schwachhausen, wobei ich viele neue Menschen kennen lernen durfte. Sie erzählten mir von Lifestyles, berichteten über Reisetrips durch Nordafrika bis Neuseeland und teilten ihre Zukunftsträume. Von Katzenliebhaber_innen bis Veganer_innen. Sportfreaks und Serienjunkies. Lehrer_innen bis Laborat_innen. Foodsaver_innen oder Zuckersüchtige. Einige Abende habe ich in den unterschiedlichsten Raumhybriden von Küche und Wohnzimmer verbracht. Abgelaufene Lebensmittel oder billige Pralinen gegessen, selbst gedrehte Zigaretten geraucht, Leitungswasser getrunken. Aber vor allem haben wir viel geredet und gelacht. Oft hat es gepasst, manchmal auch nicht – mit den_die Mitbewohner_innen, wie auch mit den vier Wänden. Ich bekam Zusagen und Absagen. Und auch wenn für mich feststand, dass ich früher oder später in irgendeine WG ziehen würde, habe ich mich im Laufe der Zeit doch radikal umentschieden. Denn eines will ich viel mehr als nur ein Zimmer in einer Bremer Altbauwohnung – Reisen.
Aus vier Wänden werden vier Räder. Kommenden Sommer geht es raus aus Bremen, raus aus Deutschland und quer durch Europa. Diese Entscheidung steht fest– endgültig. Dort wo ich illegal am Straßenrand an den Küsten von Frankreich, Portugal, Italien oder Kroatien stehen bleibe, wird mein Zuhause sein. Ich will nachts die Sterne beobachten, im Meer baden und mit Regenwasser duschen. Jeder Euro geht auf´s Konto und ab Sommer dann in die Versicherung vom ADAC oder in den Tank meines Minibusses. Daher müssen die steinernen Wände noch ein wenig auf mich warten. Aber ich komme wieder – früher oder später – und vielleicht beginnt dann eine neue Suche nach einer zentralen Altbauwohnung mit meterhohen, stuckverzierten Decken, Fenstern, die nach Süden gerichtet sind, mit mindestens 15 Quadratmeter Echtholzdielen und einer kleinen gemischten Gruppe von kreativen Menschen.
Bild: Anne-Kathrin Oestmann