Rockmusik für Fortgeschrittene
Musikgenres im Schatten des Mainstreams - Teil 1: Postrock
Das wenig beachtete Subgenre „Postrock“ möchte die Grenzen der ordinären Rockmusik sprengen und einen Gegenentwurf bieten. Dabei steht die Kunst über dem kommerziellen Erfolg.
Von Florian Fabozzi
„Rockmusik“ ist ein sehr weitumfassender und abstrakter Begriff. Sie beherbergt zahlreiche Subgenres, die untereinander zum Teil große Unterschiede aufweisen. Auch unterliegt die Rockmusik seit Jahrzehnten einem stetigen Wandel, da Künstler nach neuen Wegen und Nischen suchen, um ihrer Musik Einzigartigkeit zu verleihen. Im Zuge dessen entstand vor knapp 25 Jahren auch der „Postrock“. Der Begriff verlangt zunächst eine Definition.
Der Vorsilbe „post-“ begegnen wir heutzutage in alltäglichen Diskursen. So kursiert der politische Schlagbegriff „postfaktisch“ durch die Medien und errang im letzten Jahr den ruhmreichen Titel „Wort des Jahres“. „Post“ ist ein lateinisches Präfix und bedeutet so viel wie „nach“ oder „hinter“. Im vorangegangen Beispiel bedeutet es, dass „postfaktisch“ hinter die Faktenlage schaut oder frei übersetzt „über Fakten hinausgeht“. Was bedeutet das nun für den Postrockbegriff?
Verzicht auf Konventionen
Bei Postrockmusik handelt es sich zweifelsfrei um ein Subgenre der Rockmusik, da sie musikalisch auf die Nutzung von Gitarrenriffs, Bässen und Drums basiert und Elemente des Progressive Rocks aufgreift. Im Gegensatz zu anderen Entwicklungsstufen der Rockmusik bricht Postrock allerdings mit Konventionen selbiger. Das Genre verzichtet in aller Regel auf den klassischen Songaufbau, der den regelmäßigen Wechsel von Strophen, Bridges und Refrains beinhaltet. Postrocksongs entwickeln sich langsam, setzen auf sich wiederholende Klangmuster, die auf einen Klimax hinarbeiten. Die Atmosphäre steht im Vordergrund und wird auch durch Elemente aus der Ambientmusik und subtilen elektronischen Instrumenten erzeugt. Zehnminütige Songs sind im Postrock keine Seltenheit, sie verlangen Geduld vom Zuhörer und eine ausgeprägte Aufmerksamkeitsspanne.
Charakteristisch ist der häufige Verzicht auf Gesang: Postrock-Songs sind in der Regel reine Instrumentalstücke. Sofern Postrock-Bands Gesang einsetzen, wie es bei der isländischen Kultband Sigur Rós der Fall ist, fungiert die Stimme eher als ein weiteres Musikinstrument und weniger als der Vermittler einer Botschaft. Der Gesang tritt also nie in den Vordergrund.
Eine Vielzahl an Inspirationsquellen
Die musikalischen Wurzeln des Postrocks sind vielfältig. Beeinflusst ist es vom „Krautrock“ der Sechziger- und frühen Siebzigerjahre. Kennzeichnend für die Lieder von Krautrockbands wie Kraftwerk, Can und Faust, sind ihre ausgeprägte Länge, repetitive Klangfolgen und die Erzeugung von Atmosphäre mit tendenziell wenigen Gesangspassagen. Hier sind die Gemeinsamkeiten zum Postrock unverkennbar.
Weitere Einflüsse stammen vom Postpunk der frühen Achtziger (u. A. Joy Division), Progressive Rock (Pink Floyd) und insbesondere vom Shoegaze (Slowdive, My Funny Valentine) der späten Achtziger. Shoegaze ist ein Genre, in dem durch Gitarren und Synthesizer-Effekten wie Verzerrungen oder Hall melodische, oft verträumte Klangmuster geschaffen werden. Heutzutage ist die Bezeichnung „Dream-Pop“ gebräuchlich. Zu guter Letzt finden sich im Postrock auch Spuren von Ambientmusik (insbesondere von Brian Eno). Selbst der legendäre David Bowie produzierte für sein Album „Low“ einige Songs, die vom heutigen Verständnis von Postrock nicht weit entfernt sind.
Geburt und Aufstieg eines Genres
Als Pionieralbum des Genres gilt heute das 1991 erschienene „Spiderland“ von „Slint“, das allerdings noch nicht als ein Postrockalbum vermarktet wurde – der Begriff existierte damals noch nicht. Das eher düstere Album war kommerziell mitnichten erfolgreich, doch erlangte mit Verspätung Kultstatus, da es spätere Bands in ihrem Stil beeinflusste. Das erste Postrockalbum, das sich als solches begriffen hatte, war Bark Psychosis‘ „Hex“, das 1994 auf den Markt kam.
In den Folgejahren machten mit „Tortoise“ und „Rachels“ weitere stilprägende Bands auf sich aufmerksam, bis Ende der Neunziger schließlich ein kleiner Postrock-Boom ausbrach: Mit Sigur Rós, Godspeed You! Black Emperor und Mogwai brachten drei der heute populärsten Postrockbands ihre ersten Alben raus und legten das Fundament für eine lange Laufbahn.
„Ágætis Byrjún“ lautet der sperrige Name des Sigur Rós Albums, das für viele als das beste und kompletteste Postrockalbum aller Zeiten gilt. Beruhigend, melancholisch, hart und rau – Ágætis Byrjún bedient jede Gefühlspalette. Fans behaupten, jeder Song sei wie ein „Angriff auf die Sinne“ und entführe den Hörer in eine „surreale Welt“.
Ähnlich hochgepriesen wurde das 2000 erschienene Album „Lift Yr. Skinny Fists Like Antennas to Heaven!“ von GY!BE, das sich aus vier zwanzigminütigen (!) Songs zusammensetzt. Das Musikmagazin Pitchfork bezeichnete es einst als „gewaltiges und schmerzhaft schönes Werk“, das zwischen „elegisch“ und „wild“ variiert.
Diese beiden Alben aus der Zeit um die Jahrtausendwende gelten bis heute als die besten des Genres und sorgten für weiteren Wachstum der Szene in den Folgejahren. Dabei sind vor allem Bands wie Explosions in The Sky und Hammock eine Erwähnung wert. Endlich traten auch vermehrt Bands außerhalb des anglo-amerikanischen Raums in Erscheinung, wie beispielsweise Immanu El (Schweden), Tides from Nebula (Polen) und Mono (Japan). Im Laufe des letzten Jahrzehntes bildete sich mit dem „Postmetal“ eine lautere und aggressivere Variante des Postrocks (wenngleich die Grenzen zum Teil fließend sind), die sich wachsender Beliebtheit erfreut. Die Tendenz geht also hin zu härteren und raueren Tönen.
Produkt im Vordergrund
Doch was macht die Postrock-Szene aus, abgesehen von ihrer musikalischen Verschrobenheit? Postrock-Bands drängen sich selten in den Vordergrund und verzichten auf Selbstinszenierung und Personenkult. Es geht ihnen nicht um kommerziellen Erfolg und dem weltweiten Ruhm, sondern schlicht um die Musik an sich. Mit einigen wenigen Ausnahmen tragen Postrockbands ihre Konzerte daher vor kleinen und überschaubaren Menschenmengen aus.
Postrock ist indes auch auf dem Radar von weltweit bekannten Bands. So bedient sich die britische Band Radiohead hin und wieder aus dem musikalischen Baukasten des Postrocks. Darüber hinaus tourten sie einst mit Sigur Rós und verhalfen ihnen zu Popularität.
Sigur Rós gehört auch zu den zahlreichen Bands, die sich in den Neunzigern gründeten und bis heute aktiv sind. Interne Zerwürfnisse und Skandale, wie man sie aus dem Pop-Business zu Genüge kennt, sind im Postrock die Seltenheit. Den Bands gelingt es ihr Niveau konstant hoch zu halten und Innovationen offen gegenüber zu treten.
Musik für das Individuum
Trotz des Mangels an Liedtexten kann Postrock, wie viele andere Spielarten des Rocks, durchaus politisch und kritisch sein. Einige Bands äußern ihre Kritik in den Namen, die sie ihren Songs verleihen. In aller Regel soll der fehlende Text die Hörer jedoch dazu ermutigen, den Songs ihre eigene Bedeutung zu geben und sie nach eigenem Willen zu interpretieren.
Der Postrock verfügt über keine Subkultur und keinem rebelischen Geist – auch deshalb tut es sich vermutlich schwer neue Fans für sich zu gewinnen. Fragt man regelmäßigen Hörern nach ihren Empfindungen während eines Postrocklieds hört man häufig Beschreibungen wie „intensive körperliche Erfahrung“, „Entschleunigung des Lebens“ oder „Flucht vom Alltag“. Schließlich ist diese Musik nicht für die euphorische Masse, sondern für das empfindende Individuum.
Neugierig geworden? Der ScheinWerfer hat für euch eine Spotify-Playlist mit 39 besonders hörenswerten Postrocksongs zusammengestellt. Viel Spaß beim Reinhören!
1 Copyright: Rosario López. Dieses Foto ist lizenziert durch eine Creative Commons Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/↩
2 Copyright: Jase Lam. Dieses Foto ist lizenziert durch eine Creative Commons Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/↩
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