Wintergeflüster
Kapitel 2
Von Elina Fläschner
Hier, dein Rucksack. Nicht, dass du ihn dort oben auf der Brücke liegen lässt.“
Die Stiefel kamen näher auf mich zu und ihr Besitzer stellte meine Tasche vor mich auf den Boden. Mir gelang es jedoch nicht, die Träger mit meinen kalten Fingern zu greifen und so vergrub ich die Finger in meinen nassen Jackentaschen. Endlich konnte ich sehen, wem diese Stiefel gehörten: Ein Mann, um die zwei Meter groß und gefühlt mindestens so breit, gehüllt in einen dicken, unförmigen Mantel und eine Mütze, die er sich tief in das Gesicht gezogen hatte, um sich vor der Kälte zu schützen.
„Kind, geh nach Hause. Diese Nacht ist nicht die richtige, um alleine spazieren zu gehen und die Wunder der Sternschnuppen zu bestaunen.“ Mist, der alte Mann hatte mich also beobachtet, als ich dort oben stand. Genau genommen wusste ich gar nicht, ob er alt war. Sein Gesicht konnte ich nicht richtig sehen und seine Stimme schien alterslos, ein wenig rau aber trotzdem irgendwie vertraut. Ich versuchte nochmal, den Rucksack zu greifen, dessen Inhalt mir in diesem Moment unglaublich nutzlos vorkam. Was hatte ich nur dabei gedacht, mir überhaupt Mühe zu geben, ihn zu packen? Plötzlich überkam mich eine schreckliche Wut. Auf mich selber, auf diese blöde Brücke mit ihrem rutschigen Geländer und den alten Mann, dessen Schuld es schließlich war, dass mein Plan nicht aufgegangen war. Aber ihm konnte ich keine Schuld geben, schließlich konnte er nichts dafür, dass mir nichts von dem gelang, was ich mir vornahm. Ein Schluchzen kam irgendwo tief aus mir hervor. Eine Emotion, die ich nicht kontrollieren konnte – Wie ich es hasste! Los, hör auf, dich selbst zu bemitleiden und fang an zu denken!
Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie sollte es jetzt weiter gehen? Sollte ich das alles vergessen und einfach zu meiner Familie zurückkehren und das Leben weiterleben, das ich verabscheute? So als ob nichts gewesen wäre? Schnell verwarf ich diesen Gedanken, das hatte doch alles keinen Sinn. Ich könnte stattdessen einfach dort ansetzen, wo ich aufgehört habe. Auf der Brücke, ohne jede Ablenkung. Jetzt wo ich geschwächt war, müsste es doch schnell gehen und kaum Kraft kosten, aus eigenem Antrieb die Brücke runterzuspringen. Oder noch einfacher: das Ufer hinab ins Wasser zu rollen. „Ich komme schon zurecht, danke. Und jetzt wäre ich gerne wieder alleine,“ gab ich dem alten Mann, der wahrscheinlich gar nicht mal so alt war, zu verstehen.
„Glaub mir, Mädchen, niemand ist gern alleine. Zumindest nicht auf Dauer. Das Leben wäre sonst einfach verdammt langweilig!“ Sollte ich dem Mann von meinem Plan erzählen? Schließlich war er nur irgendein Fremder, der mich nicht dazu zwingen konnte, weiter an diesem Leben festzuhalten. Plötzlich fiel mir das eisige Wasser wieder ein, das beklemmende Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, zu spüren, wie die Wärme einen verlässt und stattdessen der Leblosigkeit Platz macht. Mich überkam ein Frösteln.
„Mir egal, Fräulein, was du willst oder nicht willst. Hier alleine würdest du erfrieren und da du keine Anstalten machst, dich fort zu bewegen, würde ich dir empfehlen, dich in meiner Stube aufzuwärmen. Ich habe nämlich überhaupt keine Lust, an dem Tod eines kleinen Fräuleins verantwortlich zu sein oder noch schlimmer, morgen deine Leiche aus dem Fluss ziehen zu müssen.“ Wusste er etwa, was ich vorhatte? Aber der Gedanke an einen wärmenden Ort kam mir sehr verlockend vor, vor allem, wenn sich dieser nicht im Haus meiner Eltern befand. Denn wenn ich mir einer Sache sicher war, dann, dass ich nicht zurückkehren würde.
Unbeholfen stand ich auf, darauf bedacht, nicht am rutschigen Ufer hinzufallen und wieder im Wasser zu landen, vielleicht sogar für immer, wie ich es ursprünglich wollte. Die nassen Klamotten machten mir den Aufstieg schwer, schließlich kam ich doch oben bei der altvertrauten Brücke an.
„Komm, Fräulein, hier lang.“ Wann hatte mich jemand zuletzt Fräulein genannt? Hatte mich überhaupt schon jemand jemals so genannt? Diese Anonymität gefiel mir und ich fasste den Entschluss, meinen Namen nicht preis zu geben. Gemeinsam staksten wir durch den Schnee, der langsam in dicken Flocken herab fiel. Ich weiß, man sollte nicht mit Fremden mitgehen, aber sind Ausnahmen nicht erlaubt, wenn man sonst keinen Ausweg weiß? Selbst wenn die Gefahr bestand, dass mich der Alte hinter das nächste Gebüsch zog und sich an mir verginge, schien mir sein Angebot in diesem Moment als einzige Lösung. Mit dem Tod hatte ich sowieso schon gerechnet, da machte die Art und Weise, wie es geschehen würde, auch keinen Unterschied mehr. Wahrscheinlich war es sogar einfacher, durch fremde Hände zu sterben als selbst die Kraft dazu aufbringen zu müssen.
Mein Weggenosse war erstaunlich angenehm: Bis auf wenige Worte, Weganweisungen und knappe Fragen nach meiner Befindlichkeit, schwieg er den gesamten Weg. Ich musste mich weder rechtfertigen noch mir irgendwelche Lügen ausdenken. Gerade als ich anfing, richtig zu frieren, wahrscheinlich weil der Adrenalinkick nachgelassen hatte, erblickte ich einige hundert Meter vor uns ein beleuchtetes Häuschen. Wir mussten wohl in einem Nachbarort gelandet sein, die Umgebung war mir unbekannt.
„Meine Frau wird sich freuen, endlich wieder Besuch zu haben. Sicher hat sie nichts dagegen, dass du ein, zwei Nächte bleibst, eben so lange bis du weißt, wohin du willst.“
Ich konnte diese Situation immer noch nicht einschätzen. Noch hatte ich die Chance zu fliehen, der Mann würde sicher nicht versuchen, mich zurückzuhalten. Aber wohin sollte ich mit der Flasche Wasser und dem Apfel? Damit würde ich nicht mal die Nacht überleben. Nicht einmal Geld oder mein Handy hatte ich bei mir, soweit habe ich nicht gedacht. Also hatte ich schon, bloß ist mir kein Grund eingefallen, weshalb mein lebloser Körper Bargeld oder ein Telefon brauchen könnte. So hatte wenigstens mein kleiner Bruder die Chance auf ein eigenes Smartphone. Je näher wir dem Haus kamen, desto nervöser wurde ich. Halt, das war gar keine Nervosität. Es war mir bloß ziemlich unangenehm, mal wieder versagt zu haben. Was ich wollte, war der Tod. Stattdessen ziehe ich zwei weitere Leute einfach so in mein Leben hinein, obwohl es sie gar nichts angeht.
Aber egal, jetzt war es zu spät für solche Überlegungen, die Wärme eines Hauses war einfach zu verlockend. Als wir durch den Gartenzaun traten, spürte ich mein klopfendes Herz. Schüchtern blieb ich hinter dem Mann stehen, als dieser mit seinen behandschuhten Händen an die Tür klopfte. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und warme Luft kam mir entgegen.