Wintergeflüster
Kapitel 6
Von Leander Löwe
Es war mitten in der Nacht und um Erik Steinbach brach die Hölle los. Die Pfleger rannten nach Auslösen des Alarms durch die gesamte Anstalt, öffneten Zimmer, befragten Insassen und durchsuchten Gemeinschaftsräume auf mögliche Hinweise, wohin die Patientin aus Zimmer XXI fliehen wollte. „Wieso ausgerechnet heute?“, dachte er sich. „Mitten im Winter.“ Dunkelheit und Kälte würden die Suche deutlich erschweren. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte die junge Frau gar nicht wählen können. Gruber hatte es endgültig vermasselt. „Was können diese Idioten hier eigentlich?“, grummelte Erik in seinen Bart, während er an den Papierkram dachte, der ihm nach dieser ganzen Geschichte erwartete. Mit dem Einsetzen des gellenden, schrillen Tons des Telefons auf seinem Schreibtisch verstummte das hektische Treiben in seinem Büro. „Psychiatrische Klinik zur hohen Luft – Steinbach am Apparat.“, hob er energisch ab. Als er die schnelle Antwort vernahm, zeigte sich keine Regung auf seinem Gesicht. Er wartete ab, bis der Gesprächspartner seinen Satz beendet hatte und sagte erleichtert: „Vielen Dank für den schnellen Anruf, wir machen uns sofort auf den Weg! Die Angehörigen haben genaue Verhaltensinstruktionen, halten Sie sich bitte bedeckt bis wir da sind.“ Dann legte er auf, schritt durch den Raum, öffnete die Tür und rief ins Nachbarbüro: „Paul? Wir haben sie! Bei den Eltern, los geht’s!“ Daraufhin griff er an die Garderobe, nahm seinen Mantel, den Hut und die Autoschlüssel und rannte Richtung Parkplatz. Am Auto angekommen, startete er den Motor. Sein Kollege Paul erschien in der Eingangstür der Psychiatrie: „Schnell!“, schrie der wartende Erik ihm zu, während er über den Hof zum Auto sprintete.
Einige Augenblicke später brausten sie mit Vollgas über die Landstraße. „Zum Glück sind es nur ein paar Kilometer. Aber… bei den Eltern? Das hätte doch unsere erste Anlaufstelle sein müssen?!“, bemerkte Paul nach ein paar Minuten. Bisher hatten beide Männer sich angeschwiegen, vor allem, weil Erik damit beschäftigt war, das rasende Vehikel auf der Straße zu behalten. Nach der Äußerung dachte Erik den Bruchteil einer Sekunde nach und wurde nur noch wütender, als er sowieso schon war: „Ja, das hätte es sein MÜSSEN! Aber mach mir keine Vorwürfe, die kann ich jetzt echt nicht gebrauchen. Bis jetzt ist nichts passiert, wie es nach Protokoll hätte laufen müssen. Du weißt genau wie chaotisch dieser Haufen ist und dass ich nicht überall gleichzeitig sein kann.“ Am liebsten hätte er Gruber auf der Stelle ordentlich die Meinung gegeigt, aber zunächst gab es Wichtigeres, auf das sie sich konzentrieren mussten. „Bernd hat verdammtes Glück, dass sie nicht erfroren ist. Sie ist von dem Nachbarn der Familie auf der Straße vor dem Haus ihrer Eltern gefunden und zu ihren Eltern gebracht worden. Offenbar hatte er keine Ahnung von ihrer Diagnose.“
Paul starrte belustigt in Eriks Gesicht: „Das findest Du verwunderlich? Nach dem, was sie mit ihrer Schwester angestellt hat? Wäre meine Tochter für den Tod eines meiner anderen Kinder verantwortlich, würde ich auch kein Sterbenswörtchen darüber verlieren.“ Erik stimmte zu: „Vermutlich nicht, nein. Wirklich tragisch, dass die Psychose es verhindert, dass sie die Lage realisieren kann. Ein Glück, dass die Mutter noch die Möglichkeit hatte, ihren Nachbarn um Hilfe zu bitten. Und gut, dass der sofort den Ernst der Lage verstanden und die Polizei verständigt hat. Ich hoffe nur, die halten sich in der Angelegenheit zurück!“
Sie bogen in die Straße ein, in der die Familie der Patientin wohnte. Erik war hier schon viel zu oft. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass Patientin XXI Reißaus genommen hatte. Und hier hatte er sie nach der Tragödie, die sich vor ziemlich genau einem Jahr mit der Schwester der Patientin zugetragen hatte, abgeholt. „Irgendetwas scheint sie immer wieder hierher zu ziehen“, stellte Paul fest, kurz bevor sie vor dem rot-geklinkerten Einfamilienhaus anhielten. „Meinst du es hängt mit der Psychose zusammen oder vermisst sie einfach nur ihre Familie? Oder ist es so etwas wie weihnachtliche Sehnsucht nach Geborgenheit?“
Sie stiegen aus. Die Wohnsiedlung, an der sich das Haus befand, lag direkt am Hang. Rund herum war dichter Wald. Umso gefährlicher hätte es werden können, wenn sich die Patientin aus Zimmer XXI hier in dieser Jahreszeit verlaufen hätte. „Klar, sie müsste die Gegend wie ihre Westentasche kennen, aber gefangen in Halluzinationen sehen bekannte Orte oft anders aus, als in der Realität“, dachte sich Erik, als er die Gegend musterte.
Pfleger Gruber hatte heute Morgen noch berichtet, dass die Patientin in den letzten Wochen erhebliche Fortschritte gemacht hatte und die Abstände zwischen ihren psychotischen Schüben immer größer geworden waren. Als sie um einen Spaziergang an der frischen Luft bat, hatte Gruber sich daher bereit erklärt, sie zu begleiten. Das Einsetzen der Psychose kam wie aus heiterem Himmel. Mit der Situation überfordert verlor der Pfleger die Übersicht und die Patientin irrte geistesabwesend durch den Park der Anstalt. Gruber fand sie erst wieder, als sie bereits auf der Brücke über dem Anstalts-Bach stand. Als er sie gerade von einer Dummheit abhalten wollte, rutschte sie ab. Tatsächlich gelang es Gruber aber die Patientin zu beruhigen, sie ohne Probleme zurück in der Anstalt zu bringen und bettfertig zu machen. Dann kam die Nachtvisite – und mit ihr die zweite Fahrlässigkeit. Vielleicht sollte Erik Gruber nach dieser Leichtsinnigkeit entlassen? Schließlich ließ er es zu, dass sie auf dem Weg zur Toilette in sein offenes Büro abbog, die alten Zeitungsartikel fand und schlagartig die Flucht ergriff, obwohl er selbst direkt im Nebenzimmer war. Dabei schaffte sie es zudem tatsächlich irgendwie am Sicherheitspersonal, den zugangsgeschützten Türen und der Nachtschwester vorbei. Wie genau ihr diese Meisterleistung gelang, war zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht geklärt und würde auch in der Aufbereitung des Falles nur schwer aufzuklären sein. Hatte sie vielleicht sogar Hilfe? Oder noch schlimmer: Hatte eine Kraft des Pflegepersonals absichtlich weggesehen? Ein wenig Bewunderung musste sich Erik dafür dennoch abringen. „Und die Verantwortung wird trotzdem an mir hängen bleiben“, dachte der Anstaltsleiter sich frustriert und schloss die vereiste Tür seines Autos.
In der dunklen, nur von ein paar Laternen beleuchteten Straße fiel lautlos der Schnee. Es war schon mitten in der Nacht. Die Häuser wirkten alle, als würden sie schlafen. Die Gegend sah spießig aus – hier wohnten wohl nur wohlhabende Leute.
„Okay. Wir sollten reingehen.“, durchbrach Erik energisch die Stille, die die letzten Sekunden beherrscht hatte. Besorgt raunte er mit leiser Stimme zu Paul, während sie die Straße vorsichtig überquerten: „Die Polizei müsste eigentlich schon längst hier sein, aber die Zeit haben wir nicht. Hast Du die Spritzen?!“
Dieser sah ihn grinsend an: „Klar. Aber ich lasse dir den Vortritt. Wir wollen doch keine Katastrophe verurs….“ Er verstummte als ein lauter, markerschütternder Schrei aus der Richtung des dunklen Hauses drang. Angespannt betraten die beiden Männer in ihren schwarzen Wintermänteln das verschneite, sonst so stille Grundstück.