Der Verehrer
Teil 1
Der Verehrer
Eine zweiteilige Kurzgeschichte von Horror-Autor Max Stascheit
Hier geht es zum zweiten Teil
Gräuliche Nebelschleier ließen die verregneten Fenster langsam beschlagen, die Zeiger in einer verblassten Wanduhr krochen simultan auf die Zwölf zu und kündeten die Mitternachtsstunde.
Wieso habe ich den Aushilfsjob als studentische Hilfskraft nur angenommen? fragte sich Aileen Krämer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Man hatte ihr gute Bezahlung in Aussicht gestellt, das war immerhin einer der Gründe gewesen, weshalb sie freiwillig die Akten im Sekretariat der Bremer Universität angenommen hatte. Aber musste es Dr. Klausner denn wirklich so dermaßen übertreiben, dass er sie bis jetzt hier warten ließ?
Alles war wie immer: Er hatte ihr eine Mail geschrieben, in der sie Instruktionen ihrer Arbeit erhalten hatte, und die war zeitlich so ungünstig angesetzt, dass Aileen an diesem Abend das Kino mit ihrem Freund ausfallen lassen und sie noch einmal in die Uni musste. Gab es dafür nicht irgendwelche Gesetze, Arbeitsrecht, oder so? fragte sich die Mittzwanzigerin und legte den Kopf in den Nacken. Klar, sie hatte bereits vorige Woche einen Termin absagen müssen, der Frauenarzttermin ließ sich nicht verschieben, aber dass sie dafür beinahe bis zum Morgen arbeiten musste, das war nun wirklich die Spitze des Eisbergs.
Und sie brauchte das Geld, das BAföG reichte vorn und hinten nicht und ihre Kommilitonen meinten, die Arbeit für Prof. Dr. Klausner sei leicht verdientes Geld. Unruhig blickte sie aus dem Fenster, erkannte schwach den verhangenen Mond und dachte ans Bett, Netflix und all die anderen Dinge, die sie eher mit ihrem Freund machen wollte, anstatt hier festzusitzen. Ihr Handy brummte in ihrer Jeans: Ein Text von Mark, ihrem Freund. Er wollte wissen, ob man sie noch immer bräuchte. Sie simste zurück, dass er sie in einer halben Stunde gern abholen könne, um diese Zeit fuhr sowieso keine Straßenbahn mehr und sie wollte ihn dringend sehen.
Mark schickte ein anstößiges GIF, dann verkündete er, er würde sie abholen. Perfekt, dann kann ich morgen mit einem Frühstück im Bett rechnen, dachte die Studentin und legte den letzten Stapel sortierter Akten in das Regal vor ihr.
Sie dachte daran, dass der Dozent ihr mitgeteilt hatte, wenn er sie nicht mehr benötigte, käme er ins Büro und würde die Gänge des GW2 Gebäudes abschließen, da Aileen keinen eigenen Schlüssel hatte. Und das als Hilfskraft, murmelte sie vor sich hin. Ihr Handy brummte erneut, diesmal aber keine Nachricht ihres Freundes, sondern der Akku, der sich verabschiedete, und sie hatte kein Ladekabel dabei. Hätte ich bloß kein Spotify gehört, rügte sie sich und steckte das Smartphone zurück in die Hosentasche.
Klausner kam sowieso nicht mehr, sie würde das Büro verlassen und auf schnellstem Wege aus diesem Labyrinth flüchten, sollte er sich doch bei ihr mit einer unpersönlichen Mail beschweren.
Aileen erhob sich von dem unbequemen Stuhl, auf dem sie stundenlang gesessen hatte und wandte sich zum Gehen. In diesem Moment hörte sie vor der Tür ein Geräusch. Sollte Dr. Klausner also doch noch gekommen sein? In angespannter Erwartung schluckte sie ihren Frust herunter und wischte die aufkommende Müdigkeit beiseite. Sie trat auf die Tür zu, öffnete sie bedächtig und blickte in den Gang. Aber dort war niemand, nur die leise summenden Glühbirnen über ihr. Den gesamten Gang konnte sie wegen der vielen Steinsäulen nicht einsehen, denn wenn jemand auf dem Gang wäre, dann könnte er sich leicht hinter ihnen verstecken. Aber warum sollte Dr. Klausner das machen? Klar, er war als Spaßvogel bei seinen Studenten bekannt, wenngleich er in ihren Mails nie den Anschein erweckte, er sei besonders witzig, aber um diese Uhrzeit?
„Prof. Dr. Klausner?“ rief sie in den Gang.
Wie in einem Horrorfilm, stellte Aileen unbehaglich fest.
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„Ich wollte Feierabend machen, brauchen Sie mich noch? Es ist ziemlich spät geworden…“ Sie brach ab, dort war ja gar niemand, mit wem also sprach die Studentin überhaupt? Sie schob ihre Reaktion auf die Müdigkeit und schloss die Tür hinter sich, schwang sich ihren Jutebeutel auf den Rücken und griff in die Jackentasche, suchte ihre Zigaretten. Als sie die Glimmstängel gefunden hatte, polterte es vor ihr auf dem Gang, dumpf auf dem teppichausgelegten Bodenbelag. Jetzt bekam die junge Studentin doch eine Gänsehaut, sie wollte aus der Uni und zu Mark. Instinktiv wollte sie nach ihrem Handy greifen, erinnerte sich jedoch daran, dass es ja aus war.
Leise vor sich hin fluchend beschleunigte sie ihre Schritte und stieß eine Milchglastür auf, huschte in den nächsten Gang und blickte sich um: Vor ihr und zu beiden Seiten zweigten weitere Gänge ab, die jedoch, im Gegensatz zu dem hinter ihr liegenden Gang, in Dunkelheit lagen. Der Mond war unter dicken Wolken verschwunden und das Licht der Nacht zu spärlich, als dass sie außer groben Konturen etwas erkennen konnte. Ihr Feuerzeug hervorholend, drehte sie mit dem Daumen am Rad und entzündete die flackernde, kleine Flamme. Die Sicht reichte nicht weiter als einen Meter, doch das musste genügen.
Aileen ging nun noch schneller, wollte aus dieser unheimlichen Szenerie flüchten und das Unigebäude schnellstens verlassen. Sie dachte an Mark, an sein warmes Auto und die Aussicht auf Geborgenheit. Dieser Klausner konnte sie mal kreuzweise.
Schnellen Schritts lief sie auf den Hauptbereich mit den Treppen ins Erdgeschoss zu, das Feuerzeig wurde ziemlich heiß und sie musste es ausmachen, sonst verbrannte sie sich den Daumen. Warum ist nur überall das Licht aus? fragte sich die Studentin und war froh, nur noch zwei Treppen vor sich zu haben. Vorsichtig nahm sie die ersten Stufen und drückte sich mit der Seite an die kalten Steingeländer, wollte einen Sturz nicht riskieren.
Wieder ein Poltern, diesmal hinter ihr. Ruckartig ließ sie den Kopf herumfahren und blickte einem Mann ins Gesicht, der am Ende der Treppe über ihr stand.
„Mädchen…“ vernahm sie eine tiefe und dennoch verzerrte Stimme. „Hilf mir…“ Mit abrupten Beenden der Worte, kippte der Körper nach vorn und rutschte wie ein Brett über den Stufen, drehte sich um sich selbst und kam vor der Studentin zum erliegen. Einen Schrei ausstoßend, erkannte Aileen ein altes Gesicht, die Kleidung eines Hausmeisters, der den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen hatte.
Mit einem Mal drehte sich die Welt der jungen Studentin um die eigene Achse, ihr Blut schien aus dem Körper zu weichen und sie begann unartikuliert zu bibbern.
Jemand hatte den Hausmeister ermordet.
Aileen stolperte zurück, fiel über ihre eigenen Füße und kam krachend auf ihrem Steißbein zum Erliegen. Sie musste hier raus, der Mann hatte noch gelebt, das bedeutete, der Mörder war noch in der Nähe, vielleicht auch hinter ihr her.
Panisch robbte sie nach hinten und spürte die kalte Steinwand an ihrem Rücken. Keuchend richtete sich die Studentin auf und merkte instinktiv, dass sie nicht mehr allein auf der Treppe war. Wie in Zeitlupe drehte sie den Kopf wieder in Richtung Aufgang und erkannte, dass über dem toten Hausmeister eine weitere Gestalt stand, etwas in ihrer Hand glänzte im schwachen Schein des einfallenden Mondes, der sich aus der Deckung der Wolken hervorgewagt hatte: Ein Messer, ein riesig wirkendes Messer.
„Hey, Aileen.“ vernahm sie eine Stimme, die sie nicht zuordnen konnte. „Jetzt sind wir endlich allein.“
Ein heiseres Lachen hallte durch den Treppenaufgang, dann kam der Fremde näher.
Der Wagen hielt vor der Uni, der Motor brummte noch vor sich hin und der Fahrer blickte genervt auf sein Smartphone. Murmelnd ärgerte sich Mark über die Unpünktlichkeit seiner Freundin, über die Arbeit, die man ihr aufgebrummt hatte und schließlich über sich selbst, dass er nicht etwas später losgefahren war.
Nach etwa zehn Minuten ohne Antwort von Aileen schaltete er den Wagen aus und verließ den Wagen. Dann musste er sie eben selbst suchen, alles besser, als herumzusitzen.
Fortsetzung folgt…