Wintergeflüster

Kapitel 5

Von Vanessa Paul

Hallo? Hallo? Kannst du mich hören?“ stöhnend öffnete ich die Augen und blickte direkt in das Gesicht unseres Nachbarn. Was machte der denn bitte mitten in der Nacht auf der Straße?

„Marie? Gott sei Dank! Ich hatte echt Panik für einen Moment! Was machst du denn für Sachen? Weißt du, was hätte passieren können, wenn ich nicht zufällig hier lang gelaufen wäre? Du hättest tot sein können!“

Ich wusste nicht, ob ich daraufhin lachen oder weinen sollte. Tot. Es war nicht so, dass die Gedanken an den Tod plötzlich verschwunden waren. Aber jetzt gerade in diesem Augenblick gab es eine Sache, die ich lieber wollte als sterben. Antworten finden. Wie ironisch wäre es bitte gewesen, wenn ich an dem Tag gestorben wäre, an dem es ausnahmsweise einmal nicht mein Ziel war. Es hätte zu meinem Leben gepasst.

„Komm her, ich helf dir auf“ sagte mein Nachbar und hielt mir seine Hand hin. Beim Anblick seiner ausgestreckten Hand musste ich an den Moment von vor drei Wochen denken. Ich hatte ihn gesehen. Arm in Arm und händchenhaltend lief er mit meiner Mutter durch die Straßen. Für alle Öffentlichkeit sichtbar. Als hätten sie nichts zu verstecken. Als hätte sie nicht einen Ehemann zu Hause, der auf sie wartete. Als wäre er nicht frisch verheiratet mit einer Frau, die alles für ihn tun würde. Übelkeit stieg in mir auf und ich wollte nichts weiter, als seine Hand wegzuschlagen. Doch diese Gelegenheit bot sich mir gar nicht erst, denn nachdem er bemerkte, dass ich nicht nach seiner Hand griff, umfasste er nun meinen Arm. Seine andere Hand legte er vorsichtig unter meinen Rücken. Ich überlegte einen kurzen Augenblick lang, ob ich schreien sollte, verwarf den Gedanken aber lieber. Auch wenn unser Nachbar noch so widerlich war, er war mir in diesem Moment immer noch lieber als Herr Gruber. Und auch wenn ich glaubte, dass dieser mir nicht gefolgt war, so wollte ich doch lieber auf Nummer sicher gehen. Also ließ ich mir widerwillig von dem Lover meiner Mutter aufhelfen und versuchte dabei das unangenehme Prickeln, das seine Berührungen auf meiner Haut hinterließen, zu ignorieren.

„Du bist ja eiskalt!“ stellte er erschrocken fest und musterte mich jetzt eingehend. „Kein Wunder bei diesen Sachen! Komm mit, ich bring dich nach Hause. Deine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen!“ Ohne eine Antwort abzuwarten schob er mich in Richtung seines Wagens, der am Straßenrand, nur einige Meter von uns entfernt, parkte. Ich wusste nicht, was mich an seiner Aussage am meisten störte. Dass er mich nach Hause bringen wollte, an den Ort, an dem ich auf keinen Fall sein wollte und wo mich alles an sie erinnerte. Wo in jeder Ecke Erinnerungen lauerten, denen ich nicht entkommen konnte. Oder dass er das Wort Mutter so einfach vor mir in den Mund nehmen konnte, ohne dabei anscheinend auch nur den geringsten Anteil eines schlechten Gewissens aufzuweisen. Er war sicher froh, dass er mich als Ausrede benutzen konnte, um meine Mutter zu besuchen. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass er nur von meiner Mutter redete, als würde es meinen Vater gar nicht geben. Als wäre er nicht auch zu Hause. Vielleicht redete er sich das ja ein. Oder vielleicht war es seine Aussage, dass meine Mutter sich Sorgen machen würde. Allein der Gedanke ließ mich in Gedanken bitter auflachen. Sorgen? Ich bezweifelte doch sehr stark, dass meine Mutter mein Verschwinden überhaupt bemerkt hatte.

Ihr Lover schien von meinen Gedanken nichts mitzubekommen, denn er lotste mich nur weiter zu seinem Auto, das wir nach einigen wenigen Metern auch schließlich erreichten. Er öffnete die Fahrertür und schien zu erwarten, dass ich einfach einsteigen würde. Jetzt könnte ich wegrennen. Nach Hause wollte ich schließlich auf gar keinen Fall und auch eine Autofahrt mit dem Nachbarn stand nicht ganz oben auf meiner Liste. Allerdings war ich müde und mir war extrem kalt. Das Auto mit Heizung war einfach zu verlockend und so stieg ich ein.

Eine Weile fuhren wir schweigend durch die Straßen. Keiner von uns wusste so recht, was er sagen sollte. Irgendwann schaltete er das Radio an und so wurden wir fortan von furchtbaren Popsongs begleitet. Schweigend starrte ich aus dem Fenster in den dunklen Nachthimmel. Eine Sternschnuppe zuckte über den Himmel und ich erwischte mich das erste Mal seit langem dabei, wie ich mir etwas anderes wünschte, als meinen Tod.

Als wir schließlich zu Hause ankamen, konnte ich nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war. Ich glaubte, dass ich einige Minuten lang eingedöst bin, aber sicher war ich mir nicht. Eins wusste ich allerdings mit völliger Sicherheit: Ich war nicht bereit, nach Hause zu gehen. Als ich das Haus heute morgen verlassen hatte, geschah dies mit der Gewissheit, dass ich meine Eltern nicht wiedersehen würde. Ich hatte mich gedanklich bereits verabschiedet. Obwohl ich mir die Option eines Waldspazierganges offen gehalten hatte, hatte ich tief in meinem Inneren bereits gewusst, dass ich nicht wieder zurückkehren würde. Er stellte den Motor ab und stieg aus, ohne mir noch einen Blick zu schenken. Ich überlegte, ob ich einfach im Auto sitzen bleiben sollte, aber es würde nicht lange dauern und es wäre hier drinnen nicht mehr warm. Ich brauchte neue Klamotten. Trockene Klamotten! Und ein Bett! Der Gedanke an ein warmes, kuscheliges Bett ließ mich schließlich doch das Auto verlassen.

So stand ich nun wieder hier. Vor der Tür, von der ich dachte, dass ich sie heute morgen zum letzten Mal zugeschlagen hatte. Ich sah dabei zu, wie er auf die Klingel drückte und hoffte, dass mein Vater die Tür öffnen würde.

Einen Moment lang tat sich überhaupt nichts. Das Haus blieb dunkel und es schien sich nichts zu rühren. Gerade als er zu einem zweiten Klingeln ansetzen wolle, war jedoch ein Geräusch von drinnen zu hören. Kurze Zeit später stand meine Mutter an der Tür. Als sie ihn sah, verzog sich ihr genervtes „Wer-wagt-es-mich-aus-dem-Schlaf-zu-klingeln-Gesicht“ in ein, wie sie es wohl nennen würde, „flirtendes Grinsen“. Der Nachbar erwiderte ihr Lächeln sofort und einen Moment schienen die beiden völlig in ihrer eigenen Welt gefangen zu sein. Meine Mutter schien nicht einmal verwundert zu sein, dass er einfach mitten in der Nacht bei uns klingelte. Ich fragte mich, ob er das wohl schon öfter getan hatte. Bevor ich diesen Gedanken weiterdenken konnte, durchbrach er den innigen Moment, indem er die Aufmerksamkeit meiner Mutter auf mich lenkte.

„Ich habe deine Tochter ohnmächtig und völlig verfroren auf einer Straße gefunden.“ Erst jetzt fiel der Blick meiner Mutter auf mich. Vorher hatte sie mich gar nicht wahrgenommen. Sie musterte mich kurz verwirrt, bevor sie sich überschwänglich bei ihm für meine „Rettung“ bedankte. Er bekam eine feste Umarmung, die ein bisschen zu lange andauerte, um als freundschaftlich, geschweige denn nachbarschaftlich durchzugehen, bevor sie ihm ein „Auf Wiedersehen“ entgegen hauchte. Ich war mir sicher, dass sie ihn geküsst hätte, wenn ich nicht daneben gestanden hätte. Sie würde es bestimmt nachholen, wenn die beiden alleine waren. Bei dem Gedanken wurde mir schlecht.

Ich wollte mich an meiner Mutter vorbei nach oben drängen, ich hörte mein Bett schon nach mir rufen, doch sie hielt mich am Arm fest. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass sie jetzt tatsächlich etwas besorgt aussah. „Geht es dir gut?“ Sie musterte mich eingehend. „Mir geht es prima“, murmelte ich und hoffte, dass sie die Lüge nicht erkannte. Die hatte sie ja sonst auch nie erkannt. Und für eine Diskussion über mein Wohlbefinden war ich im Moment definitiv nicht in der Lage. Doch ausgerechnet heute schien sie sich nicht mit meiner Lüge zufrieden zu geben.

„Sicher?“ Sie schien stattdessen zu überlegen, ob sie mir glauben sollte. Es gab mal eine Zeit, da hätte sie meine Lüge sofort entlarvt. Und selbst wenn wir uns in letzter Zeit unfassbar fremd geworden waren und sie mich nicht mehr zu kennen schien, hätte sie dennoch wissen müssen, dass es mir nicht gut ging. Ich trug Sachen, die offensichtlich nicht von mir und viel zu dünn waren, um damit draußen herumzulaufen. Ich befand mich mitten in der Nacht auf einer Straße und ihr Lover hatte mich dort ohnmächtig aufgefunden. Und jetzt stand ich frierend und erschöpft im Flur. Wenn das nicht danach schrie, dass es mir nicht gut ging, dann wusste ich auch nicht.

Das schien jetzt auch meiner Mutter aufzufallen. „Wo warst du überhaupt? Und was sind das für Sachen? Das sind doch nicht deine!“ Drei Sätze auf einmal! So viel Aufmerksamkeit hatte ich bestimmt seit einem Monat nicht von ihr bekommen.

„Ich war weg“, sagte ich ruhig.

„In der Schulzeit sollst du um 12 zu Hause sein“ sagte sie, statt nachzufragen, wo genau ich war.

„Es ist Wochenende“, gab ich leise zu bedenken und daraufhin warf sie einen verwirrten Blick auf den großen Kalender im Flur.
„Oh, ja, stimmt“ sie kratzte sich hilflos am Kopf, „sag nächstes Mal Bescheid, wenn du weg gehst, okay?“ Hilflos ging ihr Blick zwischen dem Kalender und mir hin und her „Und bleib nicht zu lange“, fügte sie hinzu.

„Okay“ stimmte ich zu und fragte mich, wie ich das erreichen sollte. Für immer weggehen zählte wohl als zu lange, oder?

Die Konversation schien damit für meine Mutter beendet und sie machte sich auf den Weg nach oben ins Schlafzimmer. Als sie die Treppen hochging, stellte ich ihr noch eine Frage, die mir auf der Zunge brannte. „Kennst du einen Bernd Gruber?“ Abrupt hielt sie inne und drehte sich ruckartig zu mir um. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.

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